Novembermond
danach beigefügt worden waren und von Silberketten stammen mussten. Julian hatte sie nie zuvor gesehen, allerdings gehörte Pierre auch nicht zu den Jeans-und-T-Shirt-Trägern.
Pierre lehnte sich zurück und drehte seinen rechten Arm in eine für Julian bequeme Position. Rücksicht und Fürsorge hatte Julian lange nicht mehr erhalten, und es fiel ihm nicht leicht, beides anzunehmen. Doch als er Pierres Handgelenk betrachtete, spürte er, wie sich sein Herzschlag beschleunigte. „Ich habe mich nicht gut unter Kontrolle“, warnte er. Seine Stimme war heiser. „Ich werde vielleicht viel mehr nehmen, als du willst. Und mehr über dich erfahren, als dir lieb ist.“
Julian hatte nicht nur Zugriff auf Erinnerungen von Menschen, sondern auch auf die von Vampiren. Außerdem offenbarten sich ihm, wenn auch sehr selten, Visionen, die ihm Einblick in die Zukunft gewährten. Diese Fähigkeiten hatten sich mit der Zeit entwickelt, mit jedem Arkanum weiter. Vermutlich würden sie bei seinem nächsten noch ausgebaut.
„Ich habe davon gehört. Lassen wir es darauf ankommen.“
„Möchtest du auch …?“
„Ja. Seit unserer ersten Begegnung.“
Julian hatte von Pierre nie einen Beweis seiner Unterwerfung verlangt, obwohl er sich der Macht des Franzosen deutlich bewusst war, und auch keinen erhalten. Pierre hatte sich nie jemandem angeschlossen und war mit niemandem eng befreundet. Über seine Vergangenheit gab er so gut wie nichts preis. Doch war er mit seiner ruhigen Diplomatie ein guter und ausgleichender Ratgeber und hatte über die Jahre seine Loyalität gegenüber der Gemeinschaf so oft bewiesen, dass er in den Inneren Kreis aufgenommen worden war. Pierre schien mit seiner Situation absolut zufrieden und zeigte nie Interesse daran, etwas an ihr zu verändern. Bis jetzt.
Julian zögerte, fuhr mit seiner Zunge über Pierres rechtes Handgelenk, dann schlug er seine Zähne hinein und trank. Julian hatte gewusst, dass Pierre stark war, aber die machtvolle Glut, die seinen Körper durchströmte und festigte, seinen erschöpften Geist kühlte und schärfte, überraschte ihn doch. Er schmeckte Pierres Ruhe und Kraft, und die heilsame und stärkende Wirkung nahm mit jedem Schluck zu. Langsam beruhigte sich Julians Herzschlag, und zum ersten Mal seit Wochen konnte er den nagenden Schmerz in seinem Innern besänftigen.
Pierre blieb sitzen, ohne seine Position zu verändern, und ließ ihn ungestört gewähren. Bis er selbst vorsichtig nach Julians Hand griff. Er sah ihn fragend an, und Julian schloss zustimmend die Augen. Er fühlte sich stabil genug für einen Austausch. Aber sobald er den Biss in sein Handgelenk spürte, geschah es: Pierres elektrisierende Macht schoss heiß durch ihn hindurch. Julians Verstand schien wie durch einen Kurzschluss auszusetzen, sein Innerstes jeden Halt zu verlieren, und es war, als würden ihre Körper zu einem. Pierre schien es nicht anders zu ergehen, denn er war nicht in der Lage, ihn zu stützen, aufzufangen und selbst das energetische Gleichgewicht zu halten. Nun, da Julian wieder an Kraft gewonnen hatte, strömte ihrer beider Stärke, vermischte sich, und beide stürzten, rutschten gemeinsam in einen gefährlichen Strudel, unfähig, sich voneinander zu lösen.
Und auch nicht bereit dazu.
Julian sah nun alles mit Pierres Augen, und die Bilder seiner Erinnerungen überschlugen sich.
Pierre rannte durch den Wald, Durst quälte ihn, helle Fackeln und der Hufschlag der Verfolger verloren sich in der Schwärze der Nacht …
Pierre stützte sich auf den Ellbogen und betrachtete die Frau, die bei ihm lag. Ihr Gesicht war blass und fein wie Porzellan, ihr langes Haar hatte die Farbe von poliertem Ebenholz. „Ich habe Angst um dich, Cecile. Jeanne ist zu mächtig. Euer Plan ist eine Idee, mehr nicht, nicht durchdacht und nicht gut. Zu viele wissen davon.
Die Revolution gehört den Menschen.
Nicht uns.
Wir sollten fliehen. Egal wohin, aber so weit weg wie möglich. In die neue Welt. Nur du und ich, noch haben wir Zeit.“
Cecile schüttelte den Kopf. „Jeanne würde mich nie gehen lassen, und ich kann die anderen nicht im Stich lassen.“ Sie strich ihm langsam und zärtlich über den Hals und hielt an seiner Kehle inne. „Und wenn es gelingt? Wir sie endlich stürzen können? Ich jedenfalls glaube fest daran und will unbedingt dabei sein. Du machst dir viel zu viele Sorgen, Pierre.“ …
Die gewaltige Kammer in den Katakomben von Paris wurde nur von wenigen Fackeln
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