Novemberrot
seiner Linken den Stoffvorhang, der hinter ihm den Raum teilte, mit einem Ruck zur Seite, sodass Weller nun mit blankem Entsetzen die Ursache des Ekel erregenden Gestanks erblickte. Denn ein Kollege von Doktor Jakob stand da in voller Montur, das bedeutete grüne Arzt-Klamotten, Mundschutz, Brille, Gummihandschuhe und schwarzes Kopftuch mit weißen Totenköpfen, wie es normalerweise von Motorradfahrern gerne getragen wird, und war gerade eifrig damit beschäftigt, den Brustkorb einer schaurig entstellten Wasserleiche zu öffnen .
» Die Lady haben sie heute Morgen aus einem Fischteich geangelt, lag wohl schon etwas länger darin«, schmunzelte der Mediziner. Weller, dem es bei diesem Anblick endgültig speiübel wurde, brachte nur noch »Okay, schick mir die Ergebnisse« und »bis morgen« heraus und verließ fluchtartig den Raum.
Fritz, der als harter Hund bei seinen Kollegen galt, konnte eigentlich so schnell nichts umhauen. Aber es gab Dinge, an die konnte oder wollte er sich einfach nicht gewöhnen.
Wieder zurück in seinem Büro, musste sich Kommissar Weller zunächst einmal von den Erlebnissen der letzten Minuten erholen. Die beiden parallel zueinander angebrachten Neondeckenleuchten tauchten den Raum in ihr weißes, kalt wirkendes Licht. Nachdem er seine, immer noch klamm vor Regennässe, schwarze Lederjacke an den hinter der Tür befindlichen Kleiderhaken gehängt, das Thermostat des Wandheizkörpers auf die maximale Leistung gedreht und die Kaffeemaschine angeworfen hatte, schaltete er seinen Stereoradiorecorder ein, denn für den Abend wurde eine zweistündige Sondersendung bezüglich des musikalischen Schaffens der Rockband Queen und deren verstorbenen Sängers Freddie Mercury ins Programm seines Lieblingssenders aufgenommen.
Die Wettervorhersage, welche für die nächsten Tage die gleichen miesen Bedingungen verhieß, beendete soeben die neunzehn Uhr Nachrichten, als nun die angekündigte Reportage begann und er sich sprichwörtlich wie ein nasser Sack in seinen Bürostuhl fallen ließ. Er tat dies mit einem langen Seufzer, schloss seine Augen, bettete sein Haupt in die dahinter gefalteten Hände, welche so wie eine Kopfstütze wirkten und lege seine Füße mit ausgestreckten Beinen auf den rechts unter dem Schreibtisch stehenden Rollcontainer. In dieser Position verharrte er eine ganze Weile und lauschte sichtlich relaxend den Worten des Sprechers, bis das kraftvolle Klavier-Intro von Seven Seas of Rybe ihn wieder zurück ins Hier und Jetzt holte. Fritz erhob sich sogleich aus dem Sitz, drehte sich um und zog das mit reichlich Hängeordnern gefüllte Ausziehregal des Wandschranks nach vorne, worin er persönliche Notizen und Aufzeichnungen einiger seiner alten Fälle aufbewahrte.
Ein Griff und in den Händen hielt er eine dicke rote Mappe, auf deren Deckblatt in großen schwarzen Buchstaben die Aufschrift Heinrich Kreismüller November 1967 zu lesen war. Anschließend versetzte er dem Regal mit dem rechten Oberschenkel einen leichten Kick, sodass es wieder knarrend in die Grundstellung zurück glitt, löschte das grelle Zimmerlicht und schaltete die auf dem Schreibtisch platzierte Leselampe ein. Er legte die Akte vor sich auf den Tisch und betrachtete sie ungläubig mit einem Kopfschütteln .
» Ich bekomme tatsächlich eine zweite Chance«, dachte er sich und sogleich wurden in ihm wieder Erinnerungen geweckt, welche er eigentlich für nicht mehr vorhanden wähnte. Ehrgeizig wie Weller als junger Kommissar seinerzeit war, setzte er damals seine ganze Energie daran, den Mörder zu finden und schuftete beinahe rund um die Uhr. Doch je länger die ergebnislose Suche dauerte, umso unzufriedener wurde er mit sich selbst und diese Schmach nagte, wie er innerlich empfand, sehr an seinem schier unerschütterlichen Ego.
Doch am Ende blieb ihm, trotz all der Anstrengungen, nichts Anderes übrig, als die Tatsache zu akzeptieren, dass es wohl doch so etwas wie das perfekte Verbrechen gab, welches offensichtlich nicht gelöst werden konnte. Bewaffnet mit einer Tasse schwarzem Kaffee, einem Schokoladenriegel, von denen Fritz für den Notfall immer welche im Erste-Hilfe-Kästchen aufbewahrte und die dicke Akte vor sich auf dem Schreibtisch liegend, klappte er nun die Deckpappe des Ordners fast ein wenig ehrfurchtsvoll auf.
Mit seiner Lesebrille auf der Nase, schluckweise den heißend Kaffee trinkend und den Riegel kauend, begann er sich im faden Licht der Tischfunsel durch das Papier-Sammelsurium zu wühlen.
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