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Novemberschnee

Novemberschnee

Titel: Novemberschnee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juergen Banscherus
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ab.
    »Das gucken wir uns an«, sagte Tom.
    »Und wenn da jemand ist?«, fragte Jurij, der sich in den Schnee hatte fallen lassen und sein Knie massierte.
    »Dann gehen wir wieder«, sagte ich.
    In dem Haus, zu dem wir ein paar Minuten später kamen, wohnte garantiert niemand mehr. Der Vorbau, an dem eine alte Speisekarte hing, war eingestürzt, das Haupthaus bot einen trostlosen Anblick. Das, was von dem Mühlrad übrig war, lag zerbrochen und tief eingesunken in einem Bach, der jetzt zugefroren und mit Schnee bedeckt war. Einige Fenster des Lokals waren zugemauert, die anderen hatte man wie die Tür zur Küche mit Bohlen versperrt. Tom riss sie mühelos herunter, so vermodert waren sie.
    Drinnen war es stockfinster. Im Schein des Feuerzeugs sahen wir nichts als umgestürzte Tische und Stühle. Aus den Wänden hingen Elektrokabel, zwei große Säle waren vollständig ausgeräumt. In einer Ecke der Garderobe lagen zusammengeknüllt Vorhänge. Sie rochen nach Schimmel. Wir suchten uns ein Plätzchen in einer Art Vorratskammer, in der es nicht ganz so kalt war, legten uns hin und deckten uns mit den Stoffen zu.
    Tom und Jurij schliefen sofort ein. So hatten wir oft in der Hütte im Steinbruch übernachtet. Im Sommer, wenn es warm war und die Grillen zirpten. Meinen Eltern hatte ich immer erzählt, ich sei bei Melanie.
    Wie lange war das her? Wann hatte ich Tom das letzte Mal geküsst? Gestern? Oder lag es bereits Wochen zurück?
    Ich versuchte eine günstigere Position auf dem harten Boden zu finden. Es gelang mir nicht. Schließlich legte ich den Vorhang unter mich. Jetzt fror ich zwar stärker, aber wenigstens lag ich etwas weicher.
    Irgendwas stimmte nicht mit mir. Wieso ging ich mit Jungen wie Jurij und Tom? Fand ich nur solche Typen interessant, die anders waren als die anderen? Die sich nicht die Bohne darum kümmerten, was die Leute von ihnen dachten? Und: Was wusste ich eigentlich von den beiden? Gerade hatte ich erfahren, dass Tom mal Jugendarrest bekommen hatte. Wenn nicht die Sache in der Sparkasse passiert wäre, hätte er mir das wahrscheinlich nie erzählt. Wie konnte einer, der zärtlich war wie keiner, so sein? Wie konnte einer, der wochenlang eine kranke Elster pflegte, jemanden so zusammenschlagen, dass der ins Krankenhaus musste?
    Und Jurij? Der klaute ein Auto in der Zeit, in der andere ihre Haustür aufschließen. Der hatte auch schon eine Jugendgerichtsverhandlung hinter sich. Wegen Autodiebstahls, weshalb sonst? Der kannte sich aus mit kriminellen Geschichten. Was machte er, wenn wir nicht zusammen waren? Was war, wenn er zu der Bande von Autodieben gehörte, von der alle im Ort redeten? Was war, wenn er Tom bei irgendwelchen krummen Dingern kennen gelernt hatte? Vielleicht war ich ja all die Monate über blind gewesen. Und taub.

6.
    Bei Ihrem letzten Besuch wollten Sie wissen, wie ich gelebt habe. Ich hab lange darüber nachgedacht, was Sie mit der Frage gemeint haben könnten. Interessiert es Sie wirklich, dass ich in einem sechsstöckigen Haus mit 24 Wohnungen wohne? Dass mein Vater seit zwei Jahren arbeitslos ist? Dass meine Mutter an drei Tagen in der Woche im Blumengeschäft arbeitet? Nein, das kann es nicht gewesen sein, das müssten Sie alles in meiner Akte gelesen haben.
    Bestimmt wollten Sie wissen, wie ich mich gefühlt hab. Mit meinen Eltern zum Beispiel. Und überhaupt. Also gut: Ich mag sie, ich hab überhaupt keinen Grund, mich über sie zu beklagen. Obwohl mein Vater arbeitslos ist, sind sie großzügig, und das nicht bloß beim Taschengeld. Manchmal glaube ich, meine Mutter hat nur deshalb die Stelle im Blumengeschäft angenommen, damit sie mir was kaufen kann. Damit in der Schule keiner blöde Bemerkungen macht, weil ich Klamotten anhabe, die kein normaler Mensch mehr trägt. Ob wir uns auch gestritten haben, fragen Sie? Na klar, wer tut das nicht.
    Mit meinem Vater konnte ich immer reden. Er war der Einzige, der mir richtig zuhörte, der nicht darauf wartete, endlich von sich selbst erzählen zu können. Obwohl – seit er seine Stelle verloren hat, hat er sich verändert. Oft fängt er schon morgens mit dem Trinken an. Er brauche das, sagt er. Dann vergesse er, dass ihn keiner mehr einstellen will, nicht mal als Lagerist oder Nachtwächter. Dann vergesse er, dass sie ihn weggeworfen haben. Wie ein benutztes Tempotaschentuch.
    Wenn man ihn nicht kennt, merkt man nichts. Wahrscheinlich weiß keiner von den Nachbarn, dass er trinkt. Um den Schnapsgeruch zu beseitigen, lutscht er

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