Novemberschnee
diesem Augenblick schon unternehmen können? Die Tür aufreißen und ihn mit einem gezielten Tritt bewegungsunfähig machen? Darauf warten, dass ein anderes Auto vorbeikam, dessen Fahrer ich um Hilfe bitten konnte? Aber der Mann in dem BMW tat mir nichts, der bot mir doch nur an mich mitzunehmen. Die Polizei schied sowieso aus. Die durfte ich nicht alarmieren. Und selbst wenn ich es gewollt hätte – ich hatte ja kein Handy dabei.
Also blieb wieder mal bloß die Flucht. Mit einem Satz sprang ich über den Straßengraben, landete in hüfthohem Schnee, arbeitete mich mit Mühe heraus und lief zwischen hohen Tannen hindurch zu einem Weg, der parallel zur Bundesstraße durch den Wald führte. Als ich neben einer Futterraufe stehen blieb, hörte ich, wie der BMW-Fahrer Gas gab und verschwand.
Es war nicht das erste Mal, dass mich einer auf der Straße anmachte. Normalerweise hatte ich keine Angst, immerhin hab ich den schwarzen Gurt. Aber noch nie hatte ich mich so hilflos gefühlt wie in diesem Augenblick. Ich durfte um keinen Preis auffallen, durfte keinen Verdacht erregen. Deshalb war eigentlich sogar mein Wegrennen falsch gewesen. Am liebsten hätte ich mich einfach unsichtbar gemacht. Der Typ hatte meine Unsicherheit gespürt, keine Frage. Der hatte genau gemerkt, dass mit mir was nicht stimmte. Er hätte blind sein müssen, es nicht zu tun. Schließlich hatte ich mich seit vierundzwanzig Stunden nicht gewaschen, meine Haare waren fettig und ungekämmt.
Sah man mir die gesuchte Bankräuberin eigentlich inzwischen an? Alarmierte der BMW-Fahrer vielleicht genau in diesem Moment die Polizei und erzählte denen, dass ein Mädchen mutterseelenallein durch den Wald an der Bundesstraße lief? Sie sollten doch mal nachschauen, es sehe aus, als ob das Mädchen von zu Hause abgehauen wäre.
Obwohl ich bei jedem Schritt einsank, blieb ich auf dem Waldweg. Ich hatte nicht die geringste Lust, der Polizei in die Arme zu laufen. Außerdem konnte ich auf weitere Angebote, mich in den nächsten Ort zu fahren, verzichten.
Es war schön hier, verdammt schön. Fast hätte ich mich auf einer der Lichtungen links und rechts des Wegs in den Schnee gelegt und mich von der Sonne bescheinen lassen. Aber Tom und Jurij warteten. Vor allem Jurij brauchte unbedingt Hilfe.
Hinter einer Biegung hörten der Wald und der Weg auf. Vor mir erstreckte sich ein riesiges Feld bis ins Tal, dahinter verlor sich das Band der Autobahn im Dunst. Am Fuß des Hügels glaubte ich eine Raststätte zu erkennen. Eine Raststätte war nicht schlecht. Dort gab es so ziemlich alles, was wir brauchten. Und niemand würde sich an mich erinnern. Anders als in einem Dorfladen.
Auf meinem Weg übers Feld scheuchte ich eine Versammlung von Krähen auf. Sie flogen schimpfend eine Runde und landeten ein paar Meter hinter mir wieder im Schnee. Als ich weiterging, blieb ich mit dem Fuß in einer Ackerfurche hängen und stürzte. Es tat nicht weh. An den Schnürriemen meiner Stiefel hingen inzwischen kleine Eiszapfen, meine Hose war steif vom Frost.
Nach einer halben Ewigkeit erreichte ich die Raststätte. Obwohl diese Gebäude an allen Autobahnen gleich aussehen, erkannte ich sie sofort wieder. Meine Eltern und ich hatten auf unseren Fahrten in den Urlaub hier schon öfter eine Pause eingelegt. Wenn ich mich nicht irrte, war Frankfurt die nächste große Stadt. Bei unserer Flucht mussten wir dreihundert Kilometer gefahren sein. Mindestens. Im Augenblick herrschte viel Betrieb, an den Tanksäulen hatten sich Fahrzeugschlangen gebildet. Das war gut für mich. Niemand würde Zeit haben, auf ein ungewaschenes und ungekämmtes Mädchen zu achten.
Ich stieg über einen mannshohen Zaun und landete auf einem Kinderspielplatz. Dort klopfte ich mir den Schnee von Anorak und Stiefeln. Es brauchte ja nicht jeder zu sehen, dass ich zu Fuß hierher gekommen war. Danach schlenderte ich zur Raststätte. Als ich in den Spiegel neben der Eingangstür blickte, erschrak ich. Meine Augen waren verquollen, die fettigen Haare standen mir wirr um den Kopf, die Schminke hatte schwarze Spuren auf meine Backen gezeichnet. Schnell wischte ich das Make-up mit Spucke ab und strich mir die Haare glatt. Erst jetzt traute ich mich in den Laden gleich neben dem Schnellrestaurant.
Dort war es voll, niemand schien mich zu beachten. Ich packte in den Einkaufskorb, was hineinging, beschränkte mich dabei auf Lebensmittel, die nicht warm gemacht zu werden brauchten. Dann warf ich einen Kamm dazu, ein Stück
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