Novemberschnee
Pfefferminzbonbons, überall in der Wohnung liegen die Tüten herum. Ein bisschen zittern ihm nach dem Aufstehen die Hände, aber da muss man schon genau hinschauen. Er hat meine Mutter und mich auch nie geschlagen, da konnte er noch so betrunken sein. Wenn ich was angestellt hatte, ist er immer nur unheimlich traurig geworden. Dann hat er einen Tag oder zwei nicht mit mir gesprochen. Das war ganz schlimm für mich.
Ich weiß nicht, ob es gut ist, Ihnen das alles zu schreiben. Aber jetzt steht es auf dem Papier und da soll es meinetwegen bleiben. Bitte, mein Vater darf nie erfahren, dass ich Ihnen von seinen Problemen erzählt habe. Er würde das nicht verstehen.
Jurij und Tom sind beide von ihren Eltern verprügelt worden, und zwar heftig. Jurij kam eines Nachmittags sogar mit einem blauen Auge und Blutergüssen an beiden Oberarmen in die Hütte. Sein Vater war wegen irgendeiner Kleinigkeit ausgerastet und hatte ihn die Treppe hinuntergestoßen. Jurij hatte noch Glück. Er hätte sich auch das Genick brechen können.
Tom hat sie mit dem Lederriemen gekriegt. Wenigstens hat er mir das erzählt. Mit der Gürtelschnalle auf den nackten Hintern hat ihn sein Vater geschlagen. Manchmal jede Woche. Bis Tom sich gewehrt und seinen Vater verdroschen hat. Fünfzehn war er da und größer als seine Eltern. Mit fünfzehn hat er noch Prügel gekriegt. Können Sie sich das vorstellen? Sein Vater hat Angst bekommen, hat sich von dem Tag an verdrückt, sobald Tom ein bisschen lauter geworden ist.
Ob die beiden ihre Väter trotzdem gemocht haben? Ich weiß nicht. Jedenfalls hab ich nie was Gutes über sie gehört. Auch über ihre Mütter nicht. Tom und Jurij waren immer froh, wenn sie von zu Hause abhauen konnten.
Mein Leben war in Ordnung. Vorher. Mit meinen Eltern verstand ich mich. In der Schule kam ich einigermaßen klar. Ich hatte einen Freund, um den mich nicht nur Melanie beneidete. Und in Jurij hatte ich fast so was wie einen Bruder. Außerdem hat Geld mich nie besonders interessiert. Warum hätte ich bei einem Banküberfall mitmachen sollen? Wie das bei Tom und Jurij war, weiß ich nicht. Jurij wurde von der Geschichte genauso überrollt wie ich, der konnte sich nicht dagegen wehren. Und Tom? Kann schon sein, dass er von Anfang an seinen eigenen Plan hatte. Aber sicher bin ich mir nicht.
Als ich am nächsten Morgen aufwachte, schien die Sonne. In schmalen Streifen zwängte sich das Licht zwischen den Brettern vor den Fenstern hindurch in die Kammer. Die beiden anderen schliefen noch. Tom hatte seinen Arm über Jurij s Bauch gelegt und stieß den Atem mit leisem Zischen aus. Wie die beiden dalagen, hätte man sie für die besten Freunde halten können. Ich stand auf, reckte mich, dass meine schmerzenden Knochen knackten, und ging zu einem der Fenster. Durch einen Spalt sah ich einen Ausschnitt des Hofs. Die Schneedecke war über Nacht offenbar noch angewachsen, zwischen verwilderten Büschen und krumm gewachsenen Apfelbäumen liefen Tierspuren kreuz und quer durcheinander. Waschbecken und Kloschüsseln waren zu einem wilden Haufen aufgetürmt. Eine Krähe saß auf seiner Spitze und putzte sich die Federn.
Eigentlich hatte ich keinen Grund, fröhlich zu sein. Schließlich hatte sich unsere Lage nicht verändert, sie war noch genauso ausweglos wie am Abend zuvor. Trotzdem fühlte ich mich plötzlich gut, irgendwie leicht. Auf einmal hatte ich das sichere Gefühl, dass sich alles einrenken würde. Dass ich spätestens am nächsten Montag wieder in der Schule sitzen würde, auf meinem Platz neben Melanie. Dass ich mich am selben Nachmittag mit Tom und Jurij in der Hütte im Steinbruch treffen und dass wir über unser Abenteuer lachen würden. Schon verrückt, wie anders die Welt bei Tage aussieht.
Tom und Jurij wachten fast gleichzeitig auf. Hastig und mit einem Gesichtsausdruck, als hätte er sich verbrannt, zog Tom seine Hand von Jurijs Bauch zurück. Jurij rollte sich auf die Seite und versuchte aufzustehen. Doch er schaffte es nicht. Er versuchte es ein zweites Mal. Es gelang ihm wieder nicht.
»Mein Knie«, stöhnte er.
»Was ist mit deinem Scheißknie?«, knurrte Tom. Mit einem Satz war er auf den Beinen. »Wegen dir hängen wir hier fest«, schimpfte er. »Weil du zu blöd zum Fahrradfahren bist!«
»Lass ihn in Ruhe«, sagte ich. »Siehst du nicht, dass er Schmerzen hat?«
»Na und?«, rief Tom. »Ohne ihn könnten wir schon langst wieder unterwegs sein!«
So schnell, wie sie gekommen war, war meine gute
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