Noware (German Edition)
geschleift worden, der schuldige Autofahrer
war vermutlich nicht einmal ausgestiegen.
Ich fühlte nichts, als ich das
Fahrrad anhob und die Funktion prüfte. Das Vorderrad hatte einen
Schlag, aber ich kam deutlich schneller nach Hause als zu Fuß.
Mir begegnete fast niemand. Ich
sah keinen Bus und keine Straßenbahn, hörte kein Flugzeug und keine
Klingeltöne. In einiger Entfernung sah ich eine Menschentraube in
der Nähe eines brennenden Telekom-Verteilerhäuschens. Ich machte,
dass ich nach Hause kam.
Jo war nicht da, und er kam
auch bis zum Abend nicht.
Ich ließ den Fernseher laufen,
bis gegen 23 Uhr der Strom ausfiel.
Am nächsten Tag hörte ich
Schüsse in einiger Entfernung.
Am übernächsten brannten die
ersten Häuser.
Am dritten gab es immer noch
keinen Strom, von Telefon oder Internet ganz zu schweigen. Ich
stellte fest, dass ich versäumt hatte, mein Handy nochmal
aufzuladen. Ich schmiss es gegen die Wand und machte mich auf die
Suche nach Jo.
*
»NoWAre.«
Noware statt Software,
Hardware, Cyberware ...
Das Graffitti hat jetzt eine
neue Bedeutung. Aber in erster Linie sagt es immer noch: »Ich war
hier.« Nicht mehr und nicht weniger. Damals ein Aufschrei gegen die
Gesellschaft mit ihren Millionen Verboten, heute ein Fingerabdruck in
der Asche der Zivilisation. Eine Fährte.
Mein Sohn ist ein Untertan von
König Long, weil sein Graffitti auf dem LKW draußen prangt. Soweit
die wacklige Theorie. Ich muss mindestens so lange hier bleiben, bis
ich Jo gefunden habe, oder bis ich weiß, wohin er von hier
verschwunden ist. Wie er überhaupt hierher gekommen ist, ist dagegen
irrelevant.
Glücklicherweise verfügt Jo
über die richtigen Eigenschaften für einen Untertanen des Königs:
Er ist feige und dumm. So widersinnnig es auch klingt – beides
erhöht seine Überlebenschancen in King Longs Reich.
Ich ziehe das Foto von Jo aus
der Tasche. Das Wasser des Rheins hat ihm mächtig zugesetzt. Ich
stelle mir vor, wie ich den Kopf in dunkle Zelte stecke, das Bild
vorzeige und frage, ob jemand den Jungen gesehen hat.
Nein. Die Suche braucht
Tageslicht. Ich stecke das Foto wieder ein.
Krimhild steht plötzlich neben
mir, ist dabei, den Gürtel zu schließen. Auch er hat vom König zur
Belohnung, einen Computerfachmann angeschleppt zu haben, eine
Freikarte für den Harem geschenkt bekommen.
»Guter König«, sagt
Krimhild. Er sieht zufrieden aus, ein Grinsen teilt seinen Bart in
zwei Hälften, die untere leicht angegraut. Der Schopf, leidlich
gepflegt, wuchert schon längere Zeit, nicht erst seit dem
Zusammenbruch.
»Möge er uns lange erhalten
bleiben«, murmele ich.
»Ich war früher mal
Journalist«, plaudert Krimhild.
»Tatsächlich?«
»Tja, aber es sah wohl so aus,
dass Journalisten nicht mehr gebraucht wurden. Im Gegensatz zu
Werbetextern. Komische Sache, oder?«
»Keine Ahnung«, entgegne ich
schwach. Mir fehlt die Kraft für eine Diskussion.
»Ich hätte als Werbetexter
sogar ganz gut verdienen können. Aber ich sage gerne die Wahrheit,
tja, und das war's dann.« Er wirft einen Blick auf den Himmel.
Irgendwo hinter den Wolken verbirgt sich der Mond, als wolle er mit
der ganzen Sache nichts zu tun haben. »Du kannst im Zug schlafen,
bist ja Minister.«
»In einem eigenen Abteil?«
Krimhild kichert. »Wir haben
ein leeres, weil gestern einer abgeknallt wurde.« Er nimmt meinen
Arm und zieht mich zum Zug.
»Abgeknallt? Von wem?«
Krimhild deutet mit dem Kinn
nach Norden. »Von den Sanktis.« Als ich verständnislos aus der
Wäsche schaue, ergänzt er: »Aus Sankt Goar.«
Wir besteigen den Zug, ein
Wachposten nickt uns zu. Wir biegen rechts ab, die Treppe hinunter,
vorbei an verhängten Abteilen, aus denen teilweise gedämpftes Licht
dringt.
»Hier«, sagt Krimhild und
schiebt eine Tür auf.
Muffiger Geruch dringt aus dem
Abteil. Die Klimaanlage funktioniert nicht mehr, die Fenster lassen
sich nicht öffnen. Im Zwielicht erkenne ich einen improvisierten
Tisch; auf der rechten Seite bilden die Sitze eine leidlich
komfortable Liegefläche. Kein Ort, den ich je Zuhause nennen will.
»Schlaf gut«, sagt Krimhild
und schiebt die Tür zu.
Ich ziehe meine Klamotten aus,
finde eine Decke, rolle mich zusammen.
Fast augenblicklich schlafe ich
ein.
Bis mich Schüsse wecken.
*
Was nahm man mit, wenn man
sein altes Leben komplett hinter sich ließ?
Beim letzten Mal hatte ich
meinen Sohn zurückgelassen, diesmal wiederholte sich die Geschichte
in dieser Hinsicht. Allerdings ließ ich auch
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