Noware (German Edition)
sämtliche Möbel
zurück. Ich verließ die Wohnung, als wollte ich nur kurz zum Aldi:
Mit Bargeld, ohne Einkaufszettel. Ein Foto von Jo hatte ich ohnehin
immer dabei, viel mehr brauchte ich nicht.
Die Batterien meiner Radios
waren alle leer, hatten ungefähr aufgehört zu funktionieren, als
auch der letzte Rundfunksender den Dienst eingestellt hatte,
»vorübergehend«, wie es hieß, aufgrund von Personalproblemen.
Die wenigen
Informationsquellen, aus denen sich die letzten Nachrichtensendungen
speisten, hießen Augenzeugen und Hörensagen. Beides war nicht sehr
verlässlich, und sie widersprachen einander ungefähr in jedem
zweiten Satz.
Klar war nur, dass ein
weltweites Netzwerk anonymer Aktivisten den großen Konzernen und
korrupten Politikern mal so richtig eins auswischen wollte.
Unterstützt von islamistischen Zellen, die von der Idee Feuer und
Flamme waren, sowie einer Menge Sprengstoff, wurde die moderne
Infrastruktur erfolgreich eliminiert. Die Effizienz der Aktion
überraschte offenbar sogar die Initiatoren, die nun feststellen
mussten, dass sie sich vorher nicht überlegt hatten, was sie als
nächstes tun sollten, und dieses Versäumnis in Ermangelung ihrer
üblichen, natürlich elektronischen Kommunikationswege auch nicht
mehr nachholen konnten.
Spontan gebildete Milizen
hatten, teils mit besten Absichten, die Ordnung nicht
wiederhergestellt, sondern alles nur noch unübersichtlicher gemacht,
weil sie ständig die Reihenfolge von Fragen und Schießen
durcheinander gebracht hatten. Einige Einheiten der Armee waren
ausgerückt, um neuralgische Punkte zu beschützen, mangels
Notfallplan und Nachschub aber schnell wieder abgezogen.
Die Bürger Europas waren
langsam panisch geworden, als die Geldautomaten auch nach drei Tagen
noch nicht wieder funktionierten. Die folgenden Plünderungen waren
schnell vorbei gewesen, weil Lebensmittelläden keine neue Ware mehr
erhielten und alles, was in den Kühlregalen lag, mangels Strom
ohnehin nicht mehr genießbar war. Das hielt zahlreiche Leute nicht
davon ab, das verdorbene Zeug zu essen. Krankenhäuser schickten
Leute mit Magenbeschwerden aber wieder nach Hause, weil sie keinen
Zugriff auf die zentralen Gesundheits-Datenbanken hatten und ihre
Zeit lieber verwendeten, die Schusswunden zu behandeln, die in immer
größerer Zahl auftraten.
Erstaunlich viele Menschen
waren zu Sozialkontakten außerhalb des Internet nicht mehr fähig,
verloren ohne Netz und Strom jede Orientierung, versanken in der
Apathie des Nirgendwo. Viele verhungerten, unzählige sprangen aus
dem Fenster oder von der nächsten Rheinbrücke. Das lokale Radio
namens Düsselwelle war die letzte verbliebene Informationsquelle.
Ein Hobby-Bastler hatte über Kurzwelle einen Sender in den ebenfalls
betroffenen USA reingekriegt. Er saß im Studio des Lokalradios und
erklärte den schwindenden Zuhörern, dass wir noch gut dran seien,
weil bei uns weniger Leute über Schusswaffen verfügten.
In der Schusterstraße fand ich
zufällig Zak, den Jungen, der Jo das Handy hatte klauen wollen. Er
hing an einer Gaslaterne, mit dem Kopf nach unten, aufgehängt an
einem abgerissenen, fingerdicken Telekomkabel. Blut bildete eine
Pfütze unter ihm, und weitere Tropfen waren unaufhörlich dabei, sie
zu vergrößern.
»Hast du Jo gesehen?«, fragte
ich aus sicherer Entfernung.
Es dauerte eine Weile, bis Zaks
blutunterlaufene Augen mich fixierten. »Leck mich«, stöhnte er,
und mehr war nicht aus ihm heraus zu bekommen.
Ich verzichtete darauf, auf die
Laterne zu klettern, um Zak herunter zu holen. Es hätte sein Leiden
vermutlich nur verlängert.
Gegen Abend war ich mit dem
Fahrrad bis zum Stadtteil Hamm gekommen, wo auf den Rheinwiesen
einige Leute neben einer aus unerfindlichen Gründen hier
gestrandeten Museumsgaleere campierten. Ich zeigte das Foto herum,
aber niemand hatte Jo gesehen.
Also nahm ich die Einladung an,
an einem großen Feuer viel zuviel Schnaps aus dem geplünderten
Keller einer örtlichen Kneipe zu trinken. Deshalb vergaß ich meine
Suche nach Jo, als ein gewichtiger Kerl namens Tarno mit russischem
Akzent vorschlug, mit der Galeere rheinaufwärts zu fahren, im Tausch
gegen Nahrungsmittel Transportdienste anzubieten und überhaupt eine
Menge Spaß zu haben.
Der Vorschlag klang
vernünftiger als das meiste, was ich in den letzten Tagen gehört
hatte, und der Rhein wirkte einladender als die Großstadt.
Vielleicht,
weil sich weniger Menschen darin befanden. Lebende Menschen; voller Leichen
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