Nox Eterna - Die ewige Nacht der Anne Oxter
leuchtete. Nox Eterna brachte ihre Armbrust in Anschlag, legte einen Pfeil in die Laufrinne, zielte sorgfältig. Das Projektil durchschnitt die Luft, sein Opfer in der Ferne wankte, stürzte, fiel ins Dickicht, sie verloren es aus den Augen. Nox Eterna ritt mit zwei Begleitern zu ihrer Beute. Sie lag gekrümmt auf dem Boden, bewegte sich noch, aber nicht wie ein zur Strecke gebrachtes Tier noch zuckt, sondern fließend, sich verformend. Blut strömte aus seinem Körper und aus einer Stirnwunde, in der der Bolzen der Armbrust steckte, versickerte im Boden, sein Fell glättete sich mehr und mehr. Nox – Anne verzichtete mittlerweile auf den zweiten Namen, wenn sie an die Magierin ihrer Träume dachte – Nox sah dem merkwürdigen Todeskampf mit höhnischem Lächeln zu. Das Gesicht des Tieres wich den weichen Zügen einer jungen Frau mit fast durchsichtiger weißer Haut, eingerahmt in wilde weiße Haarpracht. Sie sah aus wie lebendig – nur der kurze Pfeil in ihrer Stirn wollte nicht weichen …
7. November 2009
Anne erwachte schweißgebadet. Ihre einzige Hoffnung war, dass sich die Symbole des Traumes nicht auf ihre Wirklichkeit auswirken würden, dass eine simple Übertragung aggressiver Gefühle und Handlungen nicht stattfinden würde. Hatte die Frau mit dem Pfeil in der Stirn Millies Gesichtszüge getragen? Hatte sie sich als Nox Eterna auf so komplizierte und blutige Weise den Tod einer Feindin herbei gewünscht? Waren diese Aggressionen nicht maßlos, völlig unangemessen in einem Streit zwischen zwei fünfzehnjährigen Mädchen um Haarfarben? Gut, Millie hatte sie schon so oft in ähnlichen Situationen bloßgestellt, dass man schon fast von Mobbing reden konnte. Aber rechtfertigte das mörderische Fantasien, bei denen auch noch die Gefahr bestand, dass sie Wirklichkeit werden konnten? Ja, Anne ängstigte sich, weil sie spürte, dass sie hier auf nichts Gutes gestoßen war, dass alles, was mit Nox Eterna verbunden war, zwar zu ihr gehörte, aber auch zu einer Feindin in ihr, schwer zu bekämpfen und noch schwerer zu besiegen, weil sie Teil ihrer Person war.
War es wirklich gut, fremde Sprachen zu verstehen? fragte sich Anne. Nur durch den Lateinunterricht begriff sie, was die Worte bedeuten. In Annes Kopf lachte etwas böse. Latein, die tote Sprache von Tacitus und Ovid, Tote aus ferner Vergangenheit, untergegangen in römischer Dunkelheit, passend zu Nox Eterna, ewige Nacht. Ewige Nacht, wie bedrohlich das klang! Und da war auch ein Gefühl, zuerst kalt, lähmend, hilflos, dann zunehmend erbost, ja wütend, tobend und hasserfüllt … Ein Gefühl, dass Anne als Kind nie gekannt hatte.
Hatte Nox Eterna nicht nur deshalb Macht über sie gewonnen, weil sie diesen Namen verstand? Wäre sie – naiv und unwissend – ein Kind geblieben? War die Magierin nur eine Gestalt ihrer lebhaften Fantasie? Oder war sie selbst wirklich und tatsächlich … auch Nox Eterna?
Was sollte sie tun? Millie vor sich selbst warnen? Was sie bisher als Folge ihrer Träume gesehen hatte, geschah unabhängig von ihr selbst, nicht durch Handlungen im realen Leben verursacht, ohne dass sie Einfluss nehmen konnte. Welch furchtbare Ereignisse musste sie erwarten? Und würden sie unmittelbar geschehen? Voller unguter Gefühle und angespannt wie die Armbrust der dunklen Magierin ging sie zum Unterricht.
Als sie Millie sah, musste sie unwillkürlich lachen. Ihre Erzfeindin hatte keinen elementaren körperlichen Schaden genommen, die aggressiven Visionen ihres Traumes hatten auf eine ziemlich banale Weise einen Weg in die Wirklichkeit gefunden: Millie trug ein großes Pflaster auf der Stirn, und die Tatsache, dass sie zur Schule gekommen war, zeigte eindeutig, dass es nicht das Einschussloch eines Armbrustpfeils verbarg. Anne seufzte erleichtert, was Millie ebenso für eine Unverschämtheit hielt wie ihr Lachen kurz zuvor. Das Pflaster war wirklich exakt an der Stelle platziert, an der in Annes Traum der Pfeil der Armbrust gesessen hatte. Auf der Stirnhaut daneben fanden sich einige Kratzspuren wie von Fingernägeln oder Krallen. Was Millie wohl zugestoßen war?, fragte sich Anne kurz, ging dem Gedanken aber nicht weiter nach.
„Wo ist denn Rotkäppchen geblieben?“ versuchte Millie Annes offensichtliche Selbstsicherheit zu durchbrechen.
„Rotkäppchen ist gestorben!“ konterte Anne und schüttelte ihre neue tiefbraune Haarpracht. „Es lebe die Blonde mit dem Pflaster im Gesicht!“
Vermutlich
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