Nr. 13: Thriller (German Edition)
In der Gemeinschaft der Bruchstraße 13 hatte Schäfer nicht umsonst die Stellung des Oberhauptes. So freundlich er sich gab und so kultiviert er auch auftrat, er hatte die meisten Taten begangen!
Während Schäfer Leander begrüßte und dieser ihre Namen nannte, betrachtete Daniel ihn von oben bis unten. Das schwarze Hemd unter seinem dunkelgrünen Pullunder war knitterfrei und bis auf den obersten Knopf geschlossen. Die weiße Borte, die in den Kragen eingearbeitet war, ließ ihn aussehen wie einen Priester. Aber er war keiner. Er konnte keine Sünden vergeben, sondern er hatte welche begangen und zwar mehr als Gott, ganz gleich welcher Religion, ihm jemals vergeben könnte.
Er hatte eine feminine Haltung für einen Mann. Seine Bundfaltenhose schlackerte lose um seine dünnen Beine. Er entdeckte wohl einen Fleck auf seinem Schuh, denn er holte ein Stofftaschentuch aus seiner Brusttasche und wischte über die Spitze. Im Gegensatz zu seinem Haupthaar war sein Bart bereits vollkommen ergraut. Schäfer trug ihn gestutzt. Die Lachfältchen in den Augenwinkeln ließen ihn allerdings jünger wirken als 55. Er sah aus wie jemand, der abends vor dem Kamin saß, ein Bein über das andere geschlagen, und Pfeife rauchend in einem Gedichtband las.
Plötzlich bemerkte Daniel ein Blech, ähnlich einem Nummernschild, das über der Haustür hing. Darauf eingestanzt stand in roter Schrift auf weißem Untergrund:
Lebe entsprechend deiner eigenen Natur!
Offensichtlich richtete sich diese Botschaft nicht an Gäste, sondern an die Bewohner, sonst wäre es außen angebracht worden. Daniel hatte eine düstere Ahnung, worauf der Spruch abzielte. Angewidert schnaubte er.
Roman Schäfer folgte seinem Blick. „Was glauben Sie, daraus ableiten zu können?“ Da Daniel nicht augenblicklich antwortete, fuhr er aufgeregter fort: „Bitte, reden Sie mit mir. Das ist eins der Probleme, die wir ehemaligen Gefängnisinsassen haben. Jeder glaubt uns zu kennen, aber niemand sucht das Gespräch mit uns, dabei könnten wir viele Missverständnisse ausräumen.“
„Missverständnis?“ Daniel schnalzte mit der Zunge. „Stammt das Zitat von Oscar Wilde?“
„Wie kommen Sie denn darauf?“
„Es passt zu dem anderen Kram, den er geschrieben hat.“ Verlegen wischte Daniel mit der Hand durch die Luft. Er wünschte sich, belesener zu sein. So wie Marie. Sie könnte die Textstellen zitieren. Er dagegen begab sich auf unbekanntes Terrain und musste improvisieren. „Man sollte seine Bedürfnisse befriedigen, um sie loszuwerden, und dass es so etwas wie moralisch und unmoralisch nicht gibt.“
„Letzteres schrieb Wilde im Vorwort von ‚Das Bildnis des Dorian Gray‘, und es bezog sich nur auf Bücher.“ Mit spitzen Fingern nahm Schäfer die Lesebrille, die an einer grünen Schnur um seinen Hals hing, und nahm den Bügel zwischen seine Lippen.
„Dieser Spruch da gewiss nicht.“ Daniel zeigte auf das Schild. „Soll er etwa durch die Blume besagen, dass es okay ist, pädophil veranlagt zu sein?“
„Wir sind keineswegs stolz darauf. Im Gegenteil, es quält uns.“
„Dass es etwas völlig Natürliches ist, Sex mit Kindern zu haben?“
„Um Gottes willen, nein! Wir schämen uns dafür.“
„Dass die Gesellschaft nur noch etwas Zeit brauchte, bis sie diese Neigung versteht, wie das auch bei Schwulen und Lesben der Fall war?“ Dieses Argument hatte Daniel einmal von einem Kerl gehört, der Pferde etwas mehr lieb hatte, als es gut für ihn war. Nach einem Darmriss verstarb er.
„Diese Sehnsucht, oder nennen wir sie besser Sucht, hat unser ganzes Leben zerstört!“ Seufzend schüttelte Roman Schäfer den Kopf. „Haben Sie schon einmal von den Stoa gehört?“
Daniel stutzte. Versuchte Schäfer etwa das Gespräch auf ein anderes Thema zu lenken?
„Eine Stoa ist eine Säulenhalle. Dort gründete ein weiser Mann um 300 vor Christus eine Philosophenschule, der er denselben Namen gab.“
„Was hat das damit zu tun?“, fragte Daniel ungehalten.
„Es existiert eine stoische Ethik. Sie besagt, dass man im Einklang mit der Natur leben soll. Man soll nur Ziele anstreben, die erlangbar sind. Dagegen vermieden werden sollen beispielsweise Trauer, Schmerz und Furcht, aber auch Lust und Begierde, da Leidenschaft auch Leiden schafft, wie der Volksmund sagt.“
Daniel verstand nur Bahnhof. „Warum erzählen Sie uns das?“
„Die Stoa streben kein Leben ohne emotionale Regungen an, sondern vielmehr eine gleichbleibende Apathie. Nur das kann
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