Nr. 799 (German Edition)
dir um den Hals legen will, nachdem er ... nachdem er ...« Sie erstarrte und sah mit geweiteten Augen auf die Stelle, an der sie den Mann vermutete. »Er kommt! Nein, bitte, tu doch was!«
Ich wirbelte herum und suchte den Waldweg ab. Aber da war rein gar nichts zu sehen. Nur der Wind war zu hören, der mit den Ästen der Bäume spielte, und zwei Buntspechte, die um die Wette flogen und zwitscherten.
»Mia, da ist ...« Ich drehte mich zu ihr um.
Sie war aschfahl im Gesicht und griff sich an den Hals. »Nein«, wisperte sie. »Nein. Ich will nicht. Mama. Mama. «
Ich sah sie erschrocken an. Plötzlich fing sie an zu schreien. Dann begann ich sie zu schütteln, hielt ihre Schultern fest und rief: »Mia, da ist niemand. Du bist in Sicherheit.« Ich wiederholte diese Worte, immer wieder, doch es bewirkte nichts.
Irgendwann sah ich, wie David hinter ihr auftauchte und sie mit einem sanften Schlag auf den Hinterkopf zur Ruhe brachte. Sie sank in sich zusammen, heulte laut auf und krallte ihre Fingernägel in meine Arme.
»Was ist denn? Mia?«
Erst als sie den Blick hob und mich ansah, verstand ich.
Auch sie hatte gesehen, wie sie gestorben war. Genauso wie ich.
Ich schlang meine Arme um sie, tröstete sie, küsste sie auf die Stirn und flüsterte ihr beruhigende Worte zu, von deren Wahrheitsgehalt ich selbst nicht ganz überzeugt war: »Alles gut. Ich bin da. Er ist weg. Er kann dir nichts tun. Nicht mehr. Ich bin bei dir. Du bist in Sicherheit.«
Ich hoffte es wirklich in diesem Moment. Dass wir alle in Sicherheit waren. Aber ich bezweifelte es. Trotzdem sprach ich weiter, bis sich das Mädchen in meinen Armen beruhigt hatte.
Mia schniefte, wischte sich das Gesicht mit ihrem Ärmel ab und sah mich mit rot angelaufenen Augen an. »Danke«, flüsterte sie. »Dass du ihn vertrieben hast.«
»Das werde ich jedes Mal tun, wenn er kommt. Sag einfach Bescheid, ja?«
Sie nickte und ließ sich von David hochziehen. Anschließend umarmte sie ihn und verbarg ihren Kopf an seiner Brust. Gemeinsam liefen sie weiter, während ich ihnen schweigend hinterher sah.
Auch sie hatte nun eindeutig gezeigt, dass sie sich erinnern konnte. Wie konnte das sein? Warum klappte das offenbar nicht bei den anderen Neuankömmlingen? Oder verbargen sie ihre Vergangenheit aus einem bestimmten Grund? Vielleicht merkten sie gar nicht, dass sie sich erinnerten? Bei mir war es beim ersten Mal nur eine Sekunde gewesen, ein Gefühl, durch das ich kurz wieder wusste, wer ich war. Vielleicht gab es solche Momente auch bei den anderen? Und sie ignorierten sie einfach?
»Komm schon, Hanna«, rief David.
Ich zuckte zusammen und rannte los, um sie einzuholen.
Für die Überführung hatten wir uns alle im Kreis aufstellen müssen. Nummer Fünf stand mittendrin und stellte uns eine Frau vor, die uns herablassend mit schwarz geschminkten Lippen anlächelte. Sie trug einen Kapuzenmantel und hatte rote Locken, die ihr auf die Schultern fielen. Ihre Haut war blass und ihre Hände zitterten leicht. Wie das Laub unter ihren Füßen.
»Das ist Nummer Vierhunderteinundachtzig«, sagte Nummer Fünf mit einem breiten Grinsen und trat um die Frau herum, die wie ein Mannequin neben ihm stand und weiterhin gekünstelt lächelte. »Sie wird euch eure erste Überführung vorstellen. Und glaubt mir, danach wird sie euer Idol sein. Sie kann das ziemlich gut.« Der Ausbilder lachte und zeigte seine spitzen Zähne, anschließend klatschte er einmal in die Hände und trat einige Schritte zurück. »Du kannst beginnen, Nummer Vierhunderteinundachtzig. Ich freue mich schon auf deine Vorführung.«
Die rothaarige Frau nickte und ließ ihren Blick über unsere Reihen wandern, als würde sie erwarten, dass wir sie anfeuerten. Als dies nicht geschah, setzte sie sich elegant auf den Boden und häufte etwas Erde zusammen. Sie vergrub ihre rot lackierten Finger darin, flüsterte Worte, die ich nicht verstehen konnte, und sah wieder zu uns auf.
»Ihr seht«, begann sie mit sinnlicher Stimme, »wenn ihr Seelen überführt, müssen eure Hände immer Erde tragen, damit ihr euch wieder mit der Grenze verbindet. Denn Erde ist Leben und Tod, Anfang und Ende. Wenn ihr eure Hände damit einreibt, könnt ihr die Tür öffnen. Die Tür zu eurem Schützling.«
Der Ausbilder, der sich nur einige Schritte weiter vor uns aufgestellt hatte, kicherte aufgeregt auf. Er schien gar nicht erwarten zu können, dass es losging.
Die Frau lächelte ihm zu, klimperte mit ihren langen Wimpern,
Weitere Kostenlose Bücher