Nr. 799 (German Edition)
mich nur.«
Wow. Verblüfft lächelte ich sie an. Sie war eine beeindruckende Schauspielerin. Ein kleines Naturtalent im Lügen.
David tätschelte ihr behutsam den Rücken und sank auf die Knie, um auf gleicher Höhe mit ihr zu sprechen. »Du brauchst dich nicht zu fürchten«, versprach er. »Ich werde dich beschützen.«
»So wie Gretel, die Hänsel beschützt?«, fragte Mia kichernd.
Verwirrt runzelte David die Stirn, doch er nickte. »Genau so.« Dann stand er wieder auf und murmelte mit einem besorgten Blick zu mir: »Wir sollten weitergehen. Sonst reißt dir das Monster gleich noch mehr Haare aus.«
Am unteren Teil der Treppe war die Gruppe zum Stehen gekommen. Eine tiefe Stimme erreichte uns: »Ihr solltet euch beeilen, wenn ihr den Anschluss nicht verlieren wollt.« Und wieder gingen alle los, stiegen die nächste Treppe hinunter.
Im Gleichschritt, rechter Fuß zuerst, linker Fuß danach. Rechts, links, rechts. Wie eine Armee.
Wir eilten ihnen hinterher, bis wir alle gemeinsam vor einem Tor standen.
Der Ausbilder lief wieder durch unsere Gruppe, die sich wie das Meer teilte, bis er direkt vor mir stand.
»Nun werdet ihr eure erste Überführung erleben«, kündigte er heiter an. Er hob seine Hand und wies auf das Tor. Dann lief er wieder zurück, mit gleitenden Schritten, wie ein Tänzer, und stemmte mit beiden Händen das Tor auf.
Ein Beben ging durch das Treppenhaus, während das Tor mit Mühe aufschwang.
Plötzlich wurden wir alle geblendet, hoben die Hände und schirmten unsere Augen ab.
Die Sonne. Wir sahen endlich die Sonne wieder.
Vor uns war das Tor, durch das wir wieder hinaus, in unsere Welt gehen konnten. Genauer gesagt: in einen Wald.
Ich erwartete, dass alle in Jubel ausbrechen würden. Freiheit! Mir war danach, laut aufzuschreien, mich im Kreis zu drehen, hinaus zu laufen, den Wind in meinen Haaren zu spüren, das Rascheln der Blätter unter meinen Stiefeln zu hören, und die frische Luft in meinem Mund zu schmecken –
Aber niemand sagte etwas, niemand rührte sich. Fast ein wenig verlegen sahen sich meine Klassenkameraden an, warteten auf die nächsten Anweisungen des Ausbilders.
Nummer Fünf war der Erste, der hinaustrat, über die Schwelle.
Erst dann folgten ihm die anderen, zögernd, mit zusammengekniffenen Augen, weil die Sonne so stark schien. Was für eine Jahreszeit hatten wir gerade?
Ich lief hinaus und sah mich voller Freude um, entdeckte trockene Äste auf dem Boden, buntes Laub, das knirschte und raschelte, und den wolkigen Himmel.
Herbst, dachte ich. Oder Winter. Oder nein, noch war es nicht so kalt. Vielleicht war es September. Wann war ich noch mal gestorben? Ich versuchte mich an Fräulein Ingrid W.s Einweisung zu erinnern, an das Datum, das sie mir genannt hatte. Aber es war mir entfallen.
Im Gegensatz zu mir schien den anderen aus meiner Klasse extrem kalt zu sein. Sie froren, zitterten, verschränkten die Arme vor ihrer Brust und stolperten, ängstlich sahen sie sich um.
Einzig Mia, David und ich lächelten uns gegenseitig an, und genossen mit jedem weiteren Schritt unsere Freiheit.
KAPITEL 9
»Der Mann da«, wisperte Mia nach ein paar Minuten und drehte sich zu einem Baum um. Sie nickte in die Richtung, aus der wir gekommen waren, und sagte: »Er beobachtet mich.«
»Welcher Mann?« Ich wartete ab, ob jemand hinter dem Baumstamm auftauchen würde. Doch alles war still. Ich konnte niemanden sehen. »Da ist niemand.«
»Doch«, beharrte sie. »Er beobachtet mich, schon seit ich aus der Schule gekommen bin.«
Aus der Schule? Meinte sie die Anstalt?
»Bitte, sag ihm, dass er weggehen soll«, flüsterte sie mir zu. »Bitte.« Diesmal fürchtete sie sich wirklich. Ich konnte es ihr ansehen. Die Tränen standen ihr wieder in den Augen, ihre Zunge schlüpfte durch ihre Zahnlücken, genauso wie sie es immer tat, wenn sie aufgeregt war oder weinen wollte.
Da ist niemand , wollte ich wiederholen, doch gleichzeitig wollte ich sie nicht weiter aufwühlen.
Unsere Klasse war längst nicht mehr zu sehen, wir würden sie bald verlieren, wenn wir nicht hinterher hasteten. Nur David stand etwas weiter vorne und wartete neben einem Brennnesselgewächs auf uns. Er winkte uns zu, damit wir uns beeilten.
»Bitte«, hauchte Mia, und nun kullerte tatsächlich eine Träne über ihre Wange.
Ich seufzte und nickte. »Ich werde mit ihm sprechen. Geh du schon mal weiter zu David, ja?«
»Pass auf dich auf«, wisperte sie. »Er hat ein Seil dabei.«
»Ein Seil?«
»Das er
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