Nr. 799 (German Edition)
sie sterben?«, fragte ich. »Kann ihr nicht jemand helfen?«
David legte seinen Arm um meine Schulter. »Das ist unsere Aufgabe. Die Seelen der Verstorbenen zu überführen.«
Ich konnte mir das nicht länger ansehen, schloss die Augen und wandte mein Gesicht ab. Doch unser Ausbilder schien das sofort mitzubekommen. Ich hörte wieder seine fauchende Stimme: »Sieh hin. Sieh hin.«
Und plötzlich wiederholten auch die anderen Neuankömmlinge seine Worte, wie im Chor, immer wieder: »Sieh hin. Sieh hin. Sieh hin. Sieh hin.«
»Schon gut!«, schrie ich.
Da hob die Frau ein letztes Mal ihren Kopf, als hätte sie etwas gehört. »Hallo?«, rief sie leise. »Ist da jemand?« Dann wurde sie von einem weiteren Krampf geschüttelt und brach zusammen. Der Lichtball, den wir vorhin noch gesehen hatten, schlüpfte aus ihrem Mund und wollte wieder fortfliegen, doch die Überführerin schnappte sich ihn und ließ ihn in ihrer Kapuzentasche verschwinden.
Die Wolken über uns schütteten weiter ihren Regen aus, als wollten sie uns von diesem traurigen Anblick reinwaschen. Die rothaarige Frau legte ihre Kapuze ab, wusch sich das Gesicht mit den Tropfen, hielt ihre Hände in den Regen, bis sie fast sauber waren.
Dann lächelte sie uns strahlend an, während unser Ausbilder begeistert klatschte. Während hinter ihr der Schäferhund das Gesicht seines Frauchens ableckte, als könnte er sie damit wieder wecken.
KAPITEL 10
Die Bibliothek der Anstalt war der einzige Ort, an dem es wirklich gemütlich war. Der Boden war mit marineblauem Teppich ausgelegt, Holztische standen in jeder Ecke und Bücher alphabetisch sortiert in den Regalen. Von der Decke hingen Kristallkronleuchter, die den Raum in ein weiches, schummeriges Licht tauchten.
Kimberly, die Sekretärin, lief mit einem Klemmbrett in den Händen voraus, zeigte unserer Klasse die wichtigsten Nachschlagewerke, die Enzyklopädie der Überführerschaft und 100 Dummy-Antworten für Überführerlehrlinge hießen und weit vorne bei der Bibliothekarin zu finden waren. Diese saß hinter einem Pult, auf dem sich Türme von Büchern und Heften befanden, die umzukippen drohten. Sie war klein, lief mit gebeugtem Rücken durch den Raum und putzte gelegentlich die Regale mit einem Staubwischer. Ihr Gesicht sah aus, als hätte sie die meiste Zeit ihres Lebens auf der Sonnenbank verbracht. Gebräunt und faltig. Ihre Haare waren kurz geschoren, genauso, wie ich sie mir auch schneiden wollte.
»Das ist die perfekte Frisur für mich«, murmelte ich David zu, doch er schüttelte wieder den Kopf.
»Nein.«
»Warum denn nicht? Nummer Fünf wird mir auf jeden Fall nicht mehr die Haare ausreißen können.«
»Tja, dann wird er sich eben etwas anderes ausdenken, um dich zu ärgern«, wisperte David und schüttelte immer noch den Kopf. »Das werde ich nicht zulassen.«
»Und seht hier«, rief Kimberly und zeigte auf eine Tafel, die an der gegenüberliegenden Wand aufgehängt worden war.
Unsere Gruppe folgte ihr schweigsam. Wir waren ziemlich müde nach dem Spaziergang im Wald, der leider den Großteil von uns extrem verstört zurückgelassen hatte. Einschließlich mich. Doch ich versuchte mich – so gut es jedenfalls ging – abzulenken.
Die Sekretärin warf sich die kupferfarbenen Locken über die Schulter und zeigte mit einem begeisterten Lächeln auf die Tafel. Ein wenig sah sie dabei aus wie eine Hostesse, die auf Automessen teure Neuwagen vorstellte.
»Na, was – meint ihr – müsst ihr hier tun?« Sie sah uns abwechselnd an. »Na, hat einer eine Idee? Keiner?« Sie wirkte enttäuscht und machte einen Schmollmund. »Ach, kommt schon! « Ihr Blick erreichte mich und ihre Augen begannen wieder zu strahlen. »Hanna. Du wirst mir doch antworten, nicht wahr? «
Wieso hatten sie es alle gleich auf mich abgesehen? In allen drei Kursen war ich heute direkt angesprochen worden – beziehungsweise hatte sogar Haare lassen müssen. Ich seufzte leise und nickte. »Klar. Müssen wir dort eintragen, wann wir hier gewesen waren?«
»Richtig«, nickte sie hastig, »das hast du richtig erkannt!«
Ich wartete auf den Goldregen, doch als keiner kam, ergänzte ich, damit sie sich weiter freuen konnte: »Und was genau müssen wir eintragen?«
Die Nummer , dachte ich gleichzeitig und verdrehte beinahe die Augen.
Meine selbsternannte Freundin, die Sekretärin, nickte mir dankbar zu. »So eine kluge Frage, meine liebe Hanna! Ich danke dir sehr dafür! Eure Nummer müsst ihr eintragen! Ach, und ...«
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