Nr. 799 (German Edition)
kreidebleichen Finger malten Begriffe auf die Scheibe, die seltsam beschlagen aussah.
»Was steht da?«, fragte ich David, der daraufhin nach meiner Hand griff. Er drückte fest zu und schwieg.
Nachdem die Gestalt die Worte fertig geschrieben hatte, verschwand sie, einfach so, in der Luft, als wäre sie nie dagewesen. An ihrer Stelle blieb nur ein Schatten, der am Boden entlang kroch. Hastig, als wäre er auf der Suche nach etwas.
Dann bemerkte ich, dass sich die kryptischen Begriffe auf der Scheibe bewegten. Erst langsam, dann zusehend schneller formten sie sich zu einem leserlichen Gebilde zusammen und offenbarten ihre Nachricht: Die Seelen warten. Beeilt euch.
KAPITEL 8
Den zweiten Kurs XY2 hatten wir bei einem Ausbilder namens Charles, der jedoch nur Nummer Fünf genannt werden wollte. Er besaß schulterlanges, silbernes Haar und einen verkniffenen Blick. Bevor er mit seiner Lektion begann, lief er durch die Tischreihen und sah jeden von uns so misstrauisch an, als würden wir etwas vor ihm verbergen.
Sobald er bei unserer Gruppe ankam, blieb er stehen und nickte Achilles zu. Offenbar kannte er ihn bereits. Mia zog verängstigt ihren Kopf ein, während Nummer Fünf an ihr vorbeilief und ihr einen eisigen Blick zuwarf. Ein wenig erinnerte er mich an ein Raubtier, das die Zähne fletschte und vorsichtig vorwärts trat. Als er jedoch bei mir ankam, wandte ich meinen Blick nicht ab. Ich fürchtete mich nicht.
»Hrrrm«, knurrte er und legte den Kopf schief.
Er stützte seine Hände auf der Tischkante ab und grinste mich an. »Da ist aber jemand mutig«, hauchte er so leise, dass nur ich ihn hören konnte. Und bevor ich wirklich wusste, was geschah, schoss seine Hand hervor. Er riss mir – ohne mit der Wimper zu zucken – mehrere Haare aus.
»Aua!«, rief ich und legte meine Hand auf die schmerzende Stelle an meinem Hinterkopf. »Sagen Sie mal, stimmt etwas nicht mit Ihnen?«
Er zückte eine Plastiktüte aus seiner Overalltasche und ließ meine Haare darin verschwinden. Mit einem merkwürdigen Lächeln entgegnete er: »Was stimmt mit dir nicht?«
Seine Frage verschlug mir die Sprache. Also schwieg ich und starrte ihm hinterher, während er weiterlief zu David.
David blickte mich mit gedankenverlorener Miene an. Er schenkte dem Ausbilder keinerlei Beachtung, wodurch dieser gelangweilt an ihm vorbeiging.
Zum Schluss war ich die Einzige, der er die Haare ausgerissen hatte. Und dies nur, weil ich ihn direkt angesehen hatte. Oder gab es einen anderen Grund?
»So«, murmelte Nummer Fünf mit tiefer Stimme, als er wieder vor der Klasse stand. »Jetzt kenne ich euch alle. Ihr seid ein interessanter Haufen.« Sein Blick huschte wieder zu mir und er leckte sich über die Lippen. »Aber ihr seid nicht außergewöhnlich . Also bildet euch nichts ein.«
Nachdem er leise gelacht hatte, breitete er seine Arme aus, wie um uns willkommen zu heißen. »Und? Was habt ihr bisher für Erfahrungen gemacht?« Er lief die erste Reihe entlang und musterte die Schüler, die vorne saßen und nervös ihre Tischplatten anstarrten. »Hä?« Er schnippte vor einer Seniorin, die eine blaugraue Dauerwelle trug und die ihre Tasche auf ihrem Schoß fest umklammerte. Sie fuhr zusammen und kaute mehrmals auf ihrer Zunge, bevor sie antwortete: »Tjam, also, tja, ich habe sehr freudige Erfahrungen gemacht.«
Oh, das klang aber gar nicht so.
»Ach, ehrlich?« Nummer Fünf schien ihr diese Worte genauso wenig abzukaufen. Er strich seine Haare aus seinem Gesicht, sah die Frau aus funkelnden Augen an und zischte: »Ist es nicht schön? Zu wissen, dass du doch nicht am Ende deines Lebens angekommen bist? Dass es ein Danach gibt? Hä? Das ist doch wunderbar!«
»Absolut«, bestätigte die alte Frau und nickte. »Ich wünschte nur, ich weiß nicht ...«
»Was?«
»Fräulein – die Fräulein W. – hat mir nämlich verraten, dass ich einen Pudel namens Joyce besaß. Und nu', nu' wünschte ich, er wäre doch hier. Dann wäre ich nicht so allein.«
Der Ausbilder prustete und hielt sich dabei noch nicht einmal die Hand vor den Mund. Die Frau zuckte zurück, als wäre sie von seiner Spucke getroffen worden. »Dein Pudel? Du hättest ihn gerne hier?«
Sie nickte hastig und ließ ihren ängstlichen Blick durch die Klasse wandern, als würde sie hoffen, dass jemand ihr half. Was niemand tat.
»Na, meine Schöne? Wie heißt du?«, fragte Nummer Fünf und streichelte den Kopf der rundlichen Frau, die nun zu zittern begonnen hatte.
Selbst von
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