Nr. 799 (German Edition)
Kopf schoss. »Nein, das ist doch ... ein Missverständnis.«
Eleonore S. kratzte ihre taubengraue Dauerwelle und schlug mit ihrem Krückstock auf dem Fliesenboden auf. »Na, sag mal ...«, begann sie langsam, »das kann doch nicht ... Was habt ihr denn sonst hier getrieben?« Nun sprach sie wieder lauter, fast schon zu laut. »Ihr begeht einen Regelverstoß, einen schwerwiegenden Regelverstoß, habt ihr die Broschüren nicht gelesen? Herr Nummer Muskelprotz Achthundert flüchtet mitten in der Nacht aus seiner Zelle, kommt in das Bett seiner Mitschülerin, riskiert dabei so viel, dass ihm die Konsequenzen gar nicht bewusst sind, und dabei ... dabei ...«, sie fasste sich an die Stirn und wirkte entsetzt, »LASST IHR ES NOCH NICHT EINMAL ORDENTLICH KRACHEN?«, brüllte sie. »Jetzt bin ich wirklich enttäuscht. Nun zieht eure ... ach-was-auch-immer-Stiefel-oder-so an. Und folgt mir.« Als sie auf den Flur verschwand, murmelte sie nur noch: »Meine Güte, die Jugend heutzutage.«
Ich warf einen Blick zu David, der mich nicht ansah. Er fuhr sich über das Gesicht, bis seine Haut rote Flecken offenbarte. »Scheiße«, murmelte er. »Hättest du nur die Tür nicht geöffnet.«
»Wir hätten uns nicht ...« Meine Stimme brach. Verstecken können.
Er seufzte und stand auf. Mit entschlossenen Schritten eilte er auf mich zu und küsste mich auf die Stirn. »Wir schaffen das schon. Die können uns nicht«, er verzog gequält das Gesicht, »auseinanderbringen.«
»Natürlich. Niemand kann das.« Ich wollte selbst daran glauben. Daher ärgerte ich mich darüber, dass ich insgeheim zweifelte.
David schien das zu merken. Er packte meine Schultern und sah mich eindringlich an. »Hanna, wirklich. Sie können das nicht. Wenn nicht einmal ...«, er unterbrach sich selbst und räusperte sich, »stell dir vor. Selbst der Tod hat uns nicht auseinanderbringen können. Im Gegenteil. Er hat uns zusammengeführt. Und wir lassen nicht zu, nein ... ich lasse nicht zu, dass sie uns für unsere Gefühle bestrafen. Ich werde dafür sorgen, dass sie es einsehen, dass sie begreifen, wie wichtig es für uns ist, dass wir ...«
»Ich weiß.« Ich legte meinen Kopf an seine Brust und atmete ein letztes Mal seinen Duft ein. In den letzten Stunden war er mir so vertraut geworden, dass ich ihn durch seinen Geruch wahrscheinlich immer wiedererkennen würde. Es war irgendein Seifenduft, ein Waschmittel, oder vielleicht auch der Geruch nach Chlor, so als hätte er vor seinem Tod zu viel Zeit im Schwimmbad verbracht.
»Gehen wir. Die Inquisitoren warten«, sagte er und lächelte mich an, wie um mich aufmuntern zu wollen. Doch ich konnte ihm ansehen, dass seine Lockerheit nur gespielt war. Die Wut pulsierte durch seinen Körper, als hätte er noch immer ein schlagendes Herz.
Um ihn zu beruhigen, griff ich nach seiner Hand. Gemeinsam traten wir so hinaus, auf den Flur, wo Eleonore S. mit ihrem Krückstock Kreise auf den Glasboden zog.
Sie sah auf, sobald sie unsere Schritte vernahm.
»Da seid ihr ja«, stellte sie fast traurig fest. »Nun gut. Jetzt müssen wir uns wohl ... den Konsequenzen stellen.«
Sie lief voraus.
David und ich folgten ihr mit ungelenken Schritten. Wir prallten mit den Schultern gegeneinander, sogar mehrmals, immer wieder, als würde uns ein unsichtbarer Magnet zusammenschweißen wollen.
Die Gänge der Anstalt kamen mir plötzlich viel kürzer vor. Ich streckte die Hand aus und betastete die Backsteinmauern. Sie waren so nahe gerückt. Ich konnte jede Erhebung genau erkennen, jede ... Moment mal. Ich blieb stehen und kniff die Augen zusammen. An der Wand stand doch etwas. Eine gekritzelte Schrift. Zwei Anfangsbuchstaben. Ein Plus. H+D.
»Sieh mal«, flüsterte ich.
»Nicht trödeln«, rief Eleonore S. von der Ferne. Sie bog gerade in das Büro der Sekretärin ein. »Nun kommt schon.«
David blieb ebenfalls stehen und fuhr mit der Hand über die Buchstaben. Irgendjemand hatte sie ... Aber wie? Und wann?
»Was hat das zu bedeuten?«, fragte er und starrte die Wand finster an.
Ich zuckte mit den Schultern. Ich verstand es ja selbst nicht.
»Vielleicht bedeutet es gar nichts?«, hoffte ich. Und irrte mich sicherlich.
»Gehen wir weiter.« Er wandte sich ab und zog mich mit sich, drückte meine Hand so fest, dass ich fast aufschreien wollte.
»Es hat bestimmt nichts zu bedeuten«, wiederholte ich, um mich selbst zu überzeugen. »Es ist nur ein Zufall.«
»Du glaubst noch an Zufälle?«, fragte er bitter.
»Na ja ...«
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