Nr. 799 (German Edition)
erklärte ihnen die Wichtigkeit der Regeln, dass sie dem Wohlbefinden der Überführer dienten, dass sie die Probleme aus dem Weg räumten, die die Arbeit mit den Seelen behinderten. Und dann forderte er eine Nummer auf, die Broschüre nochmals vorzulesen. Damit sich alle genau damit auseinandersetzten.
Nur noch wenige Schritte, bis die Kapuzenträger mit mir den Ausgang der Aula erreichten. Da hörte ich sie.
Sie setzte an: »Das Handlettre der Regeln für Überführer. Die zehn –«
Ich erstarrte, drehte mich um.
Und da war sie.
»Mia!«, rief ich und versuchte zu ihr zu laufen, doch die Kapuzenträger versperrten mir den Weg. Mit all meiner Kraft kämpfte ich gegen sie an, doch sie rührten sich keinen einzigen Zentimeter. Sie waren wie Felsen, die sich überhaupt nicht zur Seite rücken ließen. Ich glaubte sogar zu hören, dass einer von ihnen aufkicherte - angesichts meiner Schwäche.
Nein. Ich wollte sie nur einmal sehen. Einmal mit ihr sprechen. Sie fragen, ob es ihr besser ging. Ob sie gut behandelt worden war. Nur einmal.
»Bitte«, weinte ich. Verdammt, ich weinte. Ich wollte nicht weinen. »Ich will zu ihr.«
»Zu wem nun schon wieder?«, presste Nummer Fünf gereizt hervor.
Ich zeigte in Mias Richtung, die kurz gestockt hatte. Sie sah direkt zu mir. Und sie blinzelte mich an. Oder? Bildete ich mir das ein? Einen Moment lang glaubte ich, dass sie mir zuwinken wollte. Ihre Hand hob sich, dann sank sie wieder. Sie fuhr mit der Auflistung der Regeln fort.
Was hatte das zu bedeuten?
Nummer Fünf seufzte, zog aus seiner Overalltasche ein schwarzes Wolltuch hervor. »In Ordnung.«
In Ordnung? »Ich darf zu ihr?«, fragte ich entgeistert. Ich konnte nicht glauben, dass ausgerechnet er mir das erlauben wollte.
»Ja«, er nickte. »Doch erst später. Später bring ich das Mädchen zu Ihnen. Wenn Sie sich nun ohne Gezeter damit die Augen zubinden und aufhören, sich zu wehren. Deal?« Er wedelte mit dem Tuch in der Luft, als würde er damit etwas wegwischen wollen. Meine Sehkraft.
»Wann?«, wollte ich wissen.
Er zog die Augenbrauen hoch, verzog den Mund abschätzig. »Ich überlege es mir anders, Nummer Siebenhundertneunundneunzig. Ich denke mal, Sie haben gemerkt: Dieses Angebot ist einmalig. Wann, wie und wo, darum kümmere ich mich. Einen Deal breche ich nicht. Na?«
Als ich schwieg, zeigte er mir seine spitzen Zähne. »Na dann, wenn Sie nicht möchten, kann ich auch selbst –«
»Okay«, fuhr ich ihm dazwischen und riss ihm das Tuch aus der Hand. »Später will ich sie sehen, sonst –«
»Sonst? Sehen Sie sich wirklich in der Position, Drohungen aussprechen zu können?« Er lachte so arrogant, dass ich ihm am liebsten in den Magen getreten hätte, nur um ihm zu zeigen, welche Drohungen ich wahrmachen konnte.
Doch ich biss die Zähne aufeinander und knotete das Wolltuch hinter meinem Kopf zusammen. »Und wozu soll das gut sein?«
»Nun ja«, er kam mir so nahe, dass ich seinen warmen Atem auf meiner Wange spürte, »das werden Sie schon ahnen. Der Weg zu unserer Quarantänestation ist streng geheim.«
Er klopfte mir auf die Schulter, damit ich losging. Anschließend verharrte seine Hand auf meinem Nacken, als könnte er dadurch meine Schritte besser steuern. Wenn es nach links gehen sollte, drückte er mich in jene Richtung, wenn es nach rechts gehen sollte, in die andere.
Ich zählte mit. Jedenfalls versuchte ich es.
Obwohl meine Augen kaum etwas durch das Wolltuch erkennen konnten, strengte ich mich an. An besonders hellen Orten drangen einige Schemen zu mir durch, so dass die Gänge nicht ganz so unsichtbar für mich waren. Doch sonst ... Es blieb mir nichts anderes übrig, als die Schritte zu zählen. Mir Gedanken darüber zu machen, ob wir über Glas, Parkett oder Stein liefen. Genau hinzuhören. Auf jeden Lufthauch zu achten, ob wir vielleicht an einer offenen Tür vorbeiliefen, an einer Klimaanlage. Oder auf den Geruch. Der war durchgängig steril: Desinfektionsmittel, Seifenlauge, Waschmittel. Mehr nicht.
Irgendwann begannen die Kapuzenträger neben mir zu flüstern. Es waren seltsame Stimmen, die aus ihren Kehlen drangen. Eine andere Sprache, eine eigene Sprache, die offenbar nur für die fertig ausgebildeten Überführer vorgesehen war. Es klang wie ein Gurgeln, als müssten sie gleich spucken. Dann hörte ich eine ähnlich klingende Antwort.
Nummer Fünf sprach nicht mehr. Er schien sich damit zufriedengegeben zu haben, dass ich ihm gehorchte. Was für meine Verhältnisse
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