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Nuancen der Lust (German Edition)

Nuancen der Lust (German Edition)

Titel: Nuancen der Lust (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lilly Grünberg , Antje Ippensen , Emilia Jones , Sira Rabe , Jasmin Eden
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an ihr Ohr …
    In diesem Augenblick setzte sich Alicia ruckartig auf, und die Erkenntnis, jetzt zu wissen, was passiert war, durchzuckte sie heftig. Ein stählerner, erbarmungsloser Blitz, ihr Gedächtnis grell erleuchtend.

    Yamin rannte wie der Wind.
    Heute beginnt mein neues Leben
, dachte er vergnügt,
ich habe es geschafft!
– Er konnte es noch immer kaum fassen, dass er all die anderen Bewerber ausgestochen hatte: all die hochnäsigen Jungens aus den reicheren Familien, die mit ihren Eltern da gewesen waren, in deren Adern teilweise sogar adliges Blut floss.
    Yamin war zwölf Jahre alt, ein indischer Waisenknabe, der seit vier Jahren in London lebte, drei davon im privaten Kinderheim der Mrs. Magnolia Scratched, dem er nun Adieu sagen konnte.
    Bei dem Gedanken stockte sein windgeschwinder Schritt, und er lief etwas langsamer. Er musste geschickt vorgehen, denn leicht würde das nicht werden. Die Scratched, die er von ganzem Herzen verabscheute, würde wenig Lust verspüren, ihn in die Freiheit zu entlassen.
    Ja, vor lauter Euphorie hätte er dieses Problem fast verdrängt. Jetzt trabte er nachdenklich in Richtung seines Noch-Zuhauses, während er seinen schon zuvor gefassten Plan nochmals durchdachte.
    Für sein jugendliches Alter war Yamin ausgesprochen clever und aufgeweckt; als echtes, frühreifes Kind der Straße hatte er zudem bereits Erfahrungen gesammelt, von denen andere, verwöhntere Jungen seines Alters nur träumen konnten – und er wusste genau, was er wollte. In seiner Hosentasche ertastete er den beruhigend festen, glatten Perlmuttgriff seines Springmessers. Ein lustiger Frühlingswind wehte dem Inderknaben um die Ohren, doch im Augenblick war ihm das Wetter herzlich gleichgültig. Er gelangte nach und nach in ärmlichere Bezirke, bis sich nicht mehr verheimlichen ließ, dass man ein Viertel erreichte, in dem sich nackte Not, Laster und Krankheit eingenistet hatten wie Kakerlaken.
    Am East End samt Whitechapel war der rasante technische Fortschritt, der das übrige England und zuvorderst natürlich London wie ein gewaltiger Sturm durchbraust hatte während des verflossenen Jahrzehnts, augenscheinlich spurlos vorübergegangen. Hier im Slum kannten die Menschen weder Dampfkraft noch die Tesla-Spule, sie waren arm und ungebildet und ließen sich als billige Handlanger ausbeuten. Eine Schande eigentlich, wo es dem übrigen London so gut ging, und es gab auch mehrere radikale Gruppen, die den Bodensatz der englischen Gesellschaft immer wieder zur Revolte anzustacheln versuchten – nur leider bekämpften diese Gruppen sich gegenseitig ebenfalls, wodurch sie eine Menge Energie vergeudeten. Es war und blieb ein Teufelskreis, und nur wenigen gelang es, sich aus dem zäh haftenden Spinnennetz des Elends zu befreien.
    Yamin war entschlossen, zu diesen wenigen zu gehören.
    An der Game-Over-Bridge, die hinüber führte zu jenem Viertel der Hoffnungslosigkeit, zögerte er kurz und fragte sich, ob es vielleicht ein taktischer Fehler wäre, in seiner nagelneuen, so mühselig ersparten Kleidung im Waisenhaus aufzutauchen. Ob nicht schon der Weg bis dorthin zu gefährlich wäre. Andererseits lag das baufällige Haus der Witwe Scratched nicht allzu weit von der Brücke entfernt, er hatte keinen so weiten Weg. Zudem war er bewaffnet und wusste sich seiner Haut zu wehren. Und – er wollte verdammt sein, wenn er jetzt den Schwanz einzog! Nein, es war richtig, genauso ein letztes Mal im Waisenhaus aufzutauchen, gekleidet wie ein junger indischer Adliger, bei Gott.
    Er musste nur Sorge tragen, dass seine kostbaren Kleider keine Flecken oder Risse davontrugen.
    Yamin straffte seine Schultern und begab sich ohne weiteres Zögern zu jenem zweistöckigen, baufälligen Schuppen, der sich windschief an ein riesiges Kanalisationsrohr aus Kupfer schmiegte. Unmittelbar neben dem »Haus« endete das Rohr und ergoss seine stinkende Flut in die Kloake, die große Sammelsickergrube des Viertels.
    Als Yamin eintrat und in der Mitte des düsteren Hauptraumes stehenblieb, verstummten alle Gespräche, und aller Augen richteten sich auf ihn.
    Es wurde totenstill.
    Auf einem schäbigen Diwan voll alter Kissen hockte eine Frau unbestimmbaren Alters; sie hatte seltsam ungenaue Züge und trug ihr wirres graurotes Haar hoch aufgetürmt. Ein Dutzend halbnackter schmutziger Kinder unterschiedlicher Altersstufen kauerte auf den kahlen Holzbohlen des Fußbodens.
    Die Frau durchbrach die verblüffte Stille augenblicklich mit einem schrillen

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