Nuancen der Lust (German Edition)
Game-Over-Bridge hatte Quartier nehmen wollen, in einer sauberen, ordentlichen Mittelschichtspension. Dreißig Pfund fehlten ihm für seinen Neustart, aber es machte nichts.
Wenn Yamin sich ganz und gar ungestört wusste, redete er manchmal mit seinem Teddybär. Er konnte sich noch gut erinnern, wie er ihn von seinem Vater geschenkt bekommen hatte. Vor genau vier Jahren waren sie in England gelandet, so voller Hoffnung und voller Freude, endlich der Armut Indiens entronnen zu sein. Symbol dieses Glücksgefühls wurde Archibald; um ihn als Geschenk für seinen damals 8jährigen Sohn zu erwerben, war Shayan Lahdi direkt in die berühmte Londoner Teddybärenmanufaktur gegangen.
Wie schnell waren die Rosen ihrer Freude verwelkt, wie schwer war es für Shayan gewesen, Arbeit zu finden; und als er es endlich schaffte, musste er Kohlen schaufeln und Müll schleppen, bekam bald die Schwindsucht und siechte dahin. Mit dem Rest seiner Ersparnisse, dener der Frau in den Gierschlund warf, gelang es ihm gerade so eben, Yamin in jenem verfluchten Scratched-Kinderheim unterzubringen. Um seine Ehre zu retten, sei gesagt, dass das Heim noch ein sehr erfreulicher Ort gewesen war, damals, als Mister Scratched noch lebte; erst nach seinem Verscheiden hatte sich der Ort zum Üblen verändert, da nun Magnolia ihre Herrschafts- und Machtgelüste ungehindert und äußerst sadistisch auszuleben begann.
Aber Yamin war zäh, er hatte eine robustere Natur als sein Vater; womöglich ein Erbteil seiner Mutter, die die Familie verlassen hatte, als Yamin zwei Jahre zählte, denn sie war mit Leib und Seele eine Abenteurerin und ihr rastloses Blut trieb sie fort, ohne dass etwa ein böser Wille oder ein schlechter Charakter dahinter gesteckt hätte; nein, sie konnte nicht anders, »es war stärker als sie«, pflegte Shayan zu sagen, seufzend, aber voller Verständnis.
Yamin setzte den Bären auf sein Bett und blickte ihm in die schwarzen Glasperlenaugen.
»Archibald, meinst du, Vater wären meine Pläne recht gewesen? Schließlich habe ich nun endlich, nach vier Jahren, genau den Erfolg errungen, den er sich immer für mich gewünscht hatte. Aber du kennst mein wahres Ziel, Archibald.«
Morgen würde Yamin seinen Dienst im Palast der Herzogin von Cornwall antreten. Doch seine Träume gingen weit darüber hinaus. Er wollte ein Luftschiffer werden und Flüge zwischen England und Indien bewältigen – Langstreckenflüge, die es bislang gar nicht gab. Dieses Ziel verlieh dem Jungen Kräfte, die ihn sämtliche Widrigkeiten überwinden ließen. Er war fest entschlossen, seine Vision eines Tages Wirklichkeit werden zu lassen.
Yamin entkleidete sich und schlüpfte unter die nur leicht nach Staub riechenden Laken. Die Hände hinter dem Kopf verschränkt, schaute er träumerisch an die rissige Zimmerdecke.
Archibald lag neben ihm, und er schien wohlwollend zu lächeln.
Alicia hatte keine Ahnung, wie lange sie das noch ertragen konnte, ohne sich zu verraten. Manchmal wünschte sie sich fast die angenehmeLeere in ihrem Kopf zurück, die in den verflossenen Tagen ein willenloses Ding aus ihr gemacht hatte. Denn die Erinnerungen waren schmerzhaft stark, und die Stimmen und Bilder aus der – noch sehr frischen – Vergangenheit erzählten von ungeheuerlichen Vorgängen.
Diese
Qual hatte rein gar nichts mit Lustschmerz zu tun.
Mehr und mehr fügte sich alles zu einem logischen Ganzen zusammen, und doch blieben ihr die Geschehnisse unverständlich.
Wie hatte ER ihr das antun können?
Und sie dachte dabei nicht an Kleinigkeiten wie ihr das Haar stoppelkurz zu schneiden, mit roher wütender Hand, um sie zu brandmarken und ihr klar zu machen, was er von ihrer Schande hielt … nicht einmal, von ihm so verprügelt worden zu sein, dass ihre lustschmerzliebende Seite sich einrollte wie Papier und ertaubte, um das zu überstehen und nicht etwa ihre Stroma-Fähigkeiten einzubüßen – nein, nicht einmal das war das Schlimmste gewesen, was ER ihr zugefügt hatte.
ER, ihr Vater.
Im peinigend grell erleuchteten Erinnerungsraum war sie auf jenes violett verhüllte Möbel zugegangen, lächelnd, jetzt wieder wissend, was das war.
Wer darin schlummerte. In der Wiege.
Weggerissen hatte sie ihr Vater. »Verdammte Hure, du bist nicht mehr meine Tochter! Und rühr meinen Enkel nicht an, du verdirbst seine – zum Glück noch unschuldige – Seele!«
Worte wie Steine.
Dann der Krückstock, der in ihr Genick krachte, auf ihre Schultern, ihren Rücken.
In den
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