Nuancen der Lust (German Edition)
anlachte.
Und sie erwachte tatsächlich, bis zum Bersten voll Tatendrang; ungeduldig, dass es losgehen würde, wohin auch immer.
Lord Malachyd betrat den holzgetäfelten Kellerraum.
»Ich sehe, der Schlaf hat dich erquickt, meine Kleine. Nun lass mich dich ankleiden.«
Beinahe stockte Alicia der Atem, als sie das herrliche Kleid sah, das jemand, während sie schlief, mit einem Holzbügel an einen Nagel in der Wand gehängt hatte. Sie hatte so manches Mal gut genug verdient, um sich etwas Ordentliches leisten zu können, doch so etwas trug sie zum allerersten Mal in ihrem Leben.
Wie im Traum stand sie auf, trat an die Wand und strich über den kostbaren Stoff. Das Kleid war wundervoll schmal und schlicht geschnitten und bestand aus feiner maigrüner Seide. Der Lord zog es ihr über den Kopf, um sie dann, sehr sorgfältig und sehr fest, in das Corsagenmieder hineinzuschnüren – das mehr als großzügige Dekolleté brachte ihren Busen, der sacht angehoben wurde, wunderbar zur Geltung. Eng schmiegte sich das Fischbein um ihre Figur, und durch ein paar raffiniert geschnittene Schlitze am Rockteil, als zuknöpfbare Falten getarnt, bot es einem Lustpartner raschen Zugriff.
Lord Malachyd musterte Alicias Gestalt mit unverhohlenem Stolz; seine Augen glitten über ihre noch schlanker gewordene Taille und bis hinab zu den Füßen – woraufhin er mit der Zunge schnalzte.
»Natürlich wirst du nicht barfuß an deinem Bestimmungsort erscheinen.«
Wie aus dem Nichts zauberte er ein Paar ebenfalls grüne, hochhackige Seidenschuhe hervor, die ihren besonders zierlichen Füßen wie angegossen passten.
Alicia fiel auf, dass er überhaupt keine Drohungen mehr von sich gab, wenn er mit ihr sprach, sie nicht einzuschüchtern versuchte, ja ihr noch nicht einmal Anweisungen erteilte. Ganz so, als seien sie einander ebenbürtig, bot er ihr galant den Arm, nachdem er ihre Bekleidung noch mit einer elfenbeinweißen Stola vervollständigt hatte.
Bald darauf wehte erstmals seit weiß Gott wie langer Zeit frischerFrühlingswind in Alicias Gesicht. Sie war dankbar für die Stola, denn es war doch wirklich recht kühl an diesem Abend.
Sie befanden sich in einer ländlichen Gegend; wohl in einem der Vorbezirke der gewaltigen Stadtkrake London, in einem ihrer entlegensten Fangarme. Eine leichte geschlossene Pferdekutsche brachte Alicia und ihren Begleiter zu einer kleinen kupferfarbigen Kuppel, und das war der Moment, wo das Herz des Mädchens wieder einmal rascher klopfte vor Aufregung, denn sie erkannte in der Kuppel eine U-Bahn-Station, und sie war noch nie mit Großlondons berühmter Dampfkugeluntergrundbahn gefahren.
Am liebsten hätte sie tausend Fragen gestellt, aber sie hatten den Weg hierher schweigend zurückgelegt, und auch jetzt war Lord Malachyd keineswegs redseliger, so dass sich Alicia dem lieber anpasste. Er wirkte ein kleines bisschen angespannt, und schnell fand sie auch heraus, weshalb, denn als sie hinabgestiegen waren in die Tunnelwelt der U-Bahn, erwartete sie dort ein dünner, unfreundlich blickender und langnasiger Mann mit einer gepuderten weißen Perücke.
Sonst wartete hier niemand auf den Zug.
Ohne eine Begrüßung stieß dieser Mann sofort hervor: »Was muss ich sehen, Sir?! Ihr führt sie noch nicht einmal an der Kette?«
»Es ist nicht nötig, Comte Alain«, gab der Lord kühl zurück. »Sie folgt mir auch so aufs Wort, ja selbst auf den kleinsten Wink.«
Der Franzose lachte meckernd. »Ach so, dann habt Ihr sie also, innerhalb kürzester Frist, perfekt dressiert und abgerichtet? Ihr müsst ein wahrer Zauberer sein, was widerspenstige Stromas angeht!«
Lord Malachyd schnaubte und setzte zu einer Erwiderung an, doch in diesem Moment kam die Bahn, deren zischendes Schnaufen ohnehin jedes Wort verschluckt hätte. Dieses Transportmittel hatte London, hatte ganz England an die Spitze der europäischen Wirtschaft katapultiert, und Alicia betrachtete es mit einer Mischung aus Scheu, Stolz und Ehrfurcht. Ihr überwacher Hörsinn vernahm das metallene Seufzen der Dampfkugelbahn, als diese langsam zum Stehen kam; und sie sah die Kugelsegmentekristalle schimmern, zwischendrin das Nachtfunkeln von Stahl.
Es war ein kleiner Zug von fünf miteinander verbundenen Waggonkugeln,also offenbar ein Sonderzug, nur für sie und ihre Begleitung. Alicia versuchte unauffällig, irgendwo ein Adelswappen auszumachen, doch vergeblich.
Sie stiegen alle drei ein und jeder bekam seine eigene, luxuriös eingerichtete Kugel.
Die
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