Nuancen der Lust (German Edition)
mich loswerden müssen – da ist es mir lieber, mein Schicksal selbst in die Hand zu nehmen. Schaden aber möchte ich niemandem, sei dessen gewiss.«
»Ich glaube dir«, murmelte Sylvia ergriffen. »Ich hatte keine Ahnung, dass du Mutter bist. Ist es eine Tochter?«
»Ein Sohn.«
»Kommst du denn aus dem Palast heraus?«
»Ich habe Hilfe. Nun geh, Sylvia – ich wünsche dir alles erdenkliche Glück auf dieser Welt. Mit dir wird die Herzogin erst wahrhaft aufblühen … und du mit ihr.«
Die grünen Augen des Mädchens wurden feucht.
»Oh, ich danke dir, ich danke dir von Herzen!«, rief Sylvia aus und umarmte Alicia kurz, aber heftig.
Ein Klopfen an der Außentür verkürzte diesen Gefühlsausbruch; dreimal schnell, dreimal langsam, das war Yamins Zeichen.
Alicia und Yamin gingen gemessenen Schrittes, um bei Personal oder Besuchern keinen Verdacht zu erregen, obwohl ihnen das sehr schwer fiel. Yamin ging voraus, als sei er eine Art Herold für die Schönheit in maigrüner Seide.
Aus dem Mundwinkel heraus murmelte Yamin: »Alicia, ich habe an der Tür gelauscht und so mitbekommen, wie du mit Sylvia gesprochen hast. Das war großartig! Ich meine – versteh mich nicht falsch, aber … weshalb hat sie dir vertraut, und das in diesem Ausmaß? Das grenzt an … Magie.«
»Oh, seit ich denken kann besitze ich diese Gabe. Ich kann manchmal sehr überzeugend sein und ganz und gar mit dem anderen mitschwingen, ihn gewissermaßen
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und ihm das geben, was er will. Aber es funktioniert nicht immer und ist auch nicht wirklich etwas Besonderes, weißt du. – Jetzt kommt vielmehr dein Part, und DER wird eher etwas Magisches für mich haben, wenn er klappt.«
Ich bin ja skeptisch und rechne immer noch damit, unsere Beute weit unter Wert verscherbeln zu müssen
, fügte Alicia in Gedanken hinzu; so etwas äußerte sie hier lieber nicht.
Yamin grinste stolz. Seine neue Freundin gefiel ihm immer besser.
Er lotste sie weiter durch den irrgartenhaften Palast, den ein verrückter Architekt entworfen haben musste, so wahnwitzig wie der Schnapphase oder der Hutmacher bei Alice im Wunderland.
Schließlich landeten sie in einem ganz unauffälligen Vorraum, dersich durch eine Falttür schließen ließ, und eben dort gab es in der Wand einen Lastenaufzug, in den zwei schlanke Menschen ohne allzu große Mühe hineinpassten.
Sie fuhren in die Tiefe, in den Keller hinab.
Dabei wurden sie eng aneinandergepresst, was Yamin nicht unlieb war. Und auch Alicia schien nichts dagegen zu haben … Er genoss ihre seidene Nähe, so lange sie dauerte; als der Lastenfahrstuhl mit einem harten Ruck zum Stillstand kam, war es damit schon vorbei.
Mit etwas zerknittertem Kleid stieg Alicia als erste aus. Yamin schlüpfte geschmeidig an ihr vorbei und wartete einen Moment, bis sie sich an die Umgebung gewöhnt hatte. Es war nicht eben leise hier unten; allerorten dampfte, zischte und stampfte es.
»Willkommen im Reich des Heimlichen Meisters!«, sagte Yamin. Er war gespannt, was Alicia wohl von dem alten Manne halten würde.
Dieser hatte die Stimme des Jungen erkannt und näherte sich. Er zog ein Bein nach, was seinem Gang etwas Schlurfendes gab. Alicia blickte einem Menschen entgegen, der schlicht und ergreifend ausgesprochen hässlich war, doch er besaß eine gütige Ausstrahlung, und seine tiefe Stimme klang beruhigend.
»Da hast du also eine Freundin mitgebracht, Yamin?«
»Ja, Sir. Sie heißt Alicia, und wir sind jetzt zusammen auf der Flucht.« Der Junge zog den Teddybären aus seinem Wams, betrachtete ihn nachdenklich und setzte ihn dann auf den wackligen alten Tisch, der in einer Nische stand. Er lehnte den Bären mit dem Rücken gegen eine gesprungene Vase voll vertrockneter Frühlingsblumen.
Derweil schaute Alicia den alten Mann lächelnd an und versank in einem Knicks, doch er winkte sofort ab. »Vor mir brauchst du doch nicht zu knicksen, Kleine. Ich stamme zwar nicht aus dem East End, doch im Grunde genommen bin ich von eurem Schlag.«
Er war klein, dürr, verwachsen, und seine wimpernlosen Augen waren verschieden groß. Auch der Mund des Alten wirkte verzogen, so, als litte er andauernd Schmerzen. Während seine Hände überraschend fein und gepflegt, wie die eines Adligen, aussahen – so wie seine Bassstimme nicht zu seiner verkümmerten Gestalt passte – hielten sich auf der schmuddligen Glatze nur ein paar vereinzelte Haarbüschel auf und verstärkten den Eindruck von Armut und Vernachlässigung.
Wie konnte das
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