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Nukleus

Nukleus

Titel: Nukleus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claus Cornelius Fischer
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Pfeilen den Weg zu den anliegenden Geschäften und Firmen wies. Vor dem Eingang der Bailey Media Group spürte sie die Sprossen breiter Stahlgitter unter den Schuhsohlen. Die Räume waren licht und hell, und sie rochen weit weniger nach Sex als die Auslagen des Fischgeschäfts, nur nach Verpackungspappe und erhitzter Elektronik. An den Wänden hingen bonbonfarbene Plakate mit nackten Frauen aus dem Stall von Lubricity Films. Ihre Körper wirkten glän zend und straff, aber etwas in ihren Gesichtern schien ausgelaugt von zu viel Ekstase, zu vielen Orgasmen, die auf zu viele verschiedene Weisen herbeigeführt oder vorgetäuscht worden waren.
    Umgeben von DVD-Stapeln, Türmen von altertümlichen Filmrol len in Blechbüchsen und Bergen von eingeschweißten Pornoheften saß an einem Designerschreibtisch ein schlanker, schlecht rasierter Mittvierziger mit einer Baseballkappe auf dem Kopf und breiten Hosenträgern an den Chinos. Er trug eine Hornbrille und Stiefel aus Schlangenlederimitat, die Ärmel des rot gestreiften Button-down- Hemdes waren bis zu den Ellbogen hochgekrempelt. »Ich bin Ralph«, sagte er und musterte Ella. »Habe ich Ihre Fotos schon gesehen? Wie alt sind Sie?«
    »Zu alt«, sagte Ella. »Ich bin nicht wegen einer Rolle hier.«
    »Weswegen sind Sie dann hier?«
    Ella deutete auf ein Plakat, das mit Candy Carbonara – nackt wie Lady Godiva auf dem Rücken eines Hengstes – für Smokin’ Cunts warb. »Ich suche dieses Mädchen. Candy. Oder Tori.«
    »Zuckerschnecke«, sagte Ralph anerkennend. »Was wollen Sie von ihr?«
    »Was Privates«, sagte Ella.
    »Wir machen nichts mehr mit ihr«, sagte Ralph und rieb sich geistesabwesend die Innenseite der Handgelenke, erst links, dann rechts, aber Ella entdeckte keine Narben. »Wir haben die Produktion drastisch runtergefahren. Lohnt nicht mehr. Das Internet.«
    »Wissen Sie, wo ich Sie erreichen kann?«
    »Keine Ahnung. Fragen Sie den Regisseur, Johnny Fontane. The Kubrick of Porn . Wenn einer weiß, was aus ihr geworden ist, dann er.«
    »Und wo finden ich den?«
    Ralph wandte sich seinem Laptop zu, seine Fingerspitzen tanzten Samba auf der Tastatur. »Er dreht gerade einen Film für Diamond X Productions. Cuts like a Razor. Scharfer Titel. Die wissen bestimmt, wo er steckt. Soll ich Ihnen die Telefonnummer raussuchen?«
    »Ja. Bitte.«
    Er setzte seine Fingerspitzen wieder in Bewegung, hielt kurz inne und fragte: »Wenn ich da selbst anrufe, so von Kollege zu Kollege, dann vereinfacht das die Sache ein bisschen …«
    »Ja?«
    Er schwieg und sah sie erwartungsvoll an, mit einem Blick, den er vor dem Spiegel geübt haben musste; seine Finger schwebten über das Tastatur. »Sie sind ziemlich heiß für Ihr Alter.«
    »Und?«
    »Sie haben nicht zufällig Lust, meine Eier anzufassen?«
    »Nein«, sagte Ella, »dazu habe ich keine Lust.«
    »Ich musste Sie das fragen«, sagte er.
    »Schon klar«, sagte Ella, und er nickte und griff zum Telefon. Eine Minute später hatte sie die Adresse von dem Loft, in dem Johnny Fontane gerade Cuts like a Razor drehte. »Sie sind auch heiß für Ihr Alter«, sagte Ella. »Danke.«
    Draußen ging sie weiter am Fluss entlang in Richtung Tower Bridge, denn unter den Passanten – Touristen, Reisegruppen aus China oder Japan, amerikanische Globetrotter – fühlte sie sich sicher. Paare schlenderten Arm in Arm in den beginnenden Abend. Frauen gingen Hand in Hand, zärtlich, lachend, hier und da auch Männer. Zwischen den Spaziergängern aus dem Viertel die unvermeidlichen Jogger mit ihren Pulsmessern, Mädchen mit Kaffeebechern in der Hand, smarte Anzüge mit smarten jungen Männern darin, die auf smarte Telefone starrten oder auf sie einquasselten. Rollerblader mit Pferdeschwänzen klirrten über Pflastersteine und knallten auf Asphalt. Straßenmusiker lauerten einzeln oder in Gruppen. Aus kleinen Shops drang noch mehr Musik – dazu Gerüche: Kaffee, warmer Teig, exotische Gewürze, Fleisch, in Fett gebraten von bärtigen Männern mit Turbanen.
    Das Ticken war die ganze Zeit da, die Erinnerung an Wagenbach, das Leben, das zu Straßenkunst in weißer Kreide auf dem Bürgersteig vor der Botschaft geworden war. Ella ging schneller. Erleuchtete Glasfronten wechselten sich ab mit Backsteinfassaden wie aus einem Roman von Dickens, düster, gusseisenverziert, feuersicher. Männer in blutigen Schlachterschürzen eilten an Frauen mit papierverpackten Gemälden vorbei, Kinder schwenkten Kricketschläger, kleine, elektrisierende

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