Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Nukleus

Nukleus

Titel: Nukleus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claus Cornelius Fischer
Vom Netzwerk:
erwarte sie noch Besuch oder hätte ein Geräusch gehört. Ihre Kehle bewegte sich, aber ihr Gesicht nicht. »Er war geduldig und hartnäckig, jemand, der nie aufgibt. Deswegen glaube ich nicht … ich kann mir nicht vorstellen, dass er sich selbst umgebracht hat.«
    »Aber was er an der Botschaft machte, was er für eine Funktion hatte, wissen Sie nicht?«, fragte Ella, während sie dem Cheddar den Garaus machte und knackend eine Scheibe Brot nach der anderen vertilgte.
    »Nein. Nur dass er IT-Spezialist war. Das Letzte, was ich von ihm hörte, war, dass er auf irgendein Programm gestoßen ist, als er einen Sicherheitscheck der Computer in der Botschaft durchgeführt hat …«
    »Ein Programm? Was für ein Programm? Worum ging es dabei?«
    »Keine Ahnung. Darüber haben sie nicht gesprochen.«
    »Sie?«
    »Anni und er. Ich weiß nur, dass es ihr wohl ziemliche Angst machte – ihr und ihm auch.«
    »Wann war das?«
    »Vor ein paar Wochen.« Tori stellte zwei Teetassen auf den Tisch und nahm den leeren Unterteller weg. »Es hatte etwas mit diesem Programm zu tun und etwas, was ihr jemand darüber erzählt hatte. Sie sagte plötzlich alle Termine ab, und dann war sie auf einmal verschwunden. Ich bekam noch eine E-Mail von ihr, in der sie verlangte, dass ich ihr nicht mehr schreiben und sie auch nicht anrufen sollte. Aber das ging ja nicht. Ich brauchte sie doch …«
    Ihr Blick schien sich irgendwo in der Ferne zu verlieren. In ihren Augenwinkeln schimmerten Tränen, die sie nicht fortwischte. Sie streckte eine Hand aus, als wollte sie sich irgendwo festhalten, aber als sie ins Leere griff, schien sie es sich anders zu überlegen und schloss beide Arme fest um ihren Oberkörper.
    »Sie hat also nicht mit Ihnen darüber gesprochen?«, fragte Ella vorsichtig.
    »Nein.« Tori erwachte wie aus einer Trance. »Möchten Sie Milch oder Zucker in den Tee?«
    »Nein.« Ich möchte wissen, was mit Annika ist. »Könnte sie mit jemand anderem darüber geredet haben?«
    »Außer mit Wagenbach?« Tori dachte einen Augenblick nach. »Mit Dr. Gershenson vielleicht. Kenneth. Zu dem ging sie selbst einmal im Monat. Er war so etwas wie ein Beichtvater für sie. Aber den habe ich nie kennengelernt.«
    »Haben Sie irgendeine Vermutung, was mit ihr passiert sein könnte? Oder wo sie sich vielleicht aufhält?«
    »Nein.« Tori räumte auch das Brot weg und stellte die Teekanne auf den Tisch. Ihre Augen schimmerten noch immer feucht, aber es kamen keine Tränen mehr.
    »Können Sie sich vorstellen, dass sie sich umgebracht hat? Vielleicht im Zusammenhang mit diesem Programm?«
    »Anni?« Tori schwieg überrascht. »Nein, das hätte doch gar nicht zu ihr gepasst.«
    »Oder dass sie ermordet wurde?«
    »Sie fragen, als wären Sie von der Polizei. Sind Sie wirklich Ärztin?«
    »Ja. Ärzte stellen auch viele Fragen«, sagte Ella. »Zum Beispiel, wie Annika sich eine so große Wohnung in einer teuren Gegend wie Hans Place leisten konnte. Sie hatte nie viel Geld.«
    Tori füllte die beiden Tassen mit Tee. »Vielleicht ist sie mit dem Programm reich geworden. Sie hat mal gesagt, sie hätte sich auch verkauft.«
    »Wann hat sie das gesagt?«
    »Als ich von meinen Filmen gesprochen habe. Aber ich habe mich gar nicht verkauft.« Tori nickte mehrmals bekräftigend. »Ich habe es gewollt.«
    Ella sagte nichts. Sie nahm nur einen Schluck von dem Tee. Tori sah ihre Miene und redete hastig weiter. »Man verkauft sich doch nicht, nur weil man etwas macht, was nicht allen passt, oder?« Sie lehnte sich mit dem Rücken an die Spüle und verschränkte die Arme. »Warum sind Sie Ärztin geworden? War das schon immer Ihr Wunsch? «
    Ella schüttelte den Kopf. »Erst wollte ich etwas mit Pferden machen, dann wollte ich Choreografin oder Journalistin werden, aber dann habe ich einen Jungen kennengelernt, einen Sanitäter. Ich dachte immer, dass ich seinetwegen Medizin studiert habe. Aber Annika meinte, im Grunde hätte ich es nur getan, um meinem Vater zu gefallen. Dass ich das geworden bin, was er immer werden wollte, aber nie geschafft hat.«
    Tori nickte. »Haben Sie Ihren Vater sehr geliebt?«
    »Sehr.«
    »War er gut zu Ihnen?« Ihre Worte klang jetzt wie ein ersticktes Schluchzen, obwohl ihr Gesicht nicht die geringste Regung zeigte.
    »Ja.«
    »Dann hatten Sie eine glückliche Kindheit?«
    »Sie nicht?«
    »Nein.« Tori nahm ihre Tasse, blies auf den Tee, mit kurzen, sachten Atemstößen, wie eine Mutter auf die Wunde eines Kindes bläst, heile, heile,

Weitere Kostenlose Bücher