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Nukleus

Nukleus

Titel: Nukleus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claus Cornelius Fischer
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mit dem Pflaster auf der Wange. Er verharrte, jetzt mit dem schmutzigem Mantel über dem Arm und zerrissener Hose, und in seiner Hand, halb verdeckt von dem Mantel, hielt er immer noch die Pistole mit dem Schalldämpfer, die er in diesem Moment hob und auf Ella richtete, eine gleitende, schwingende Bewegung, gefolgt von kurzen Rucken – eins, zwei, drei – kein Mündungsfeuer, kein Knallen, nur plop, plop, plop, und Ella, die sich duckte und zur Seite warf, und ein Schrei, eine Frauenstimme, und noch ein Schrei, und Ella, die geduckt zur U-Bahn-Unterführung lief, und die Queen, deren silberne Robe plötzlich mit drei roten Flecken prunkte, während sie langsam von ihrem Podest sackte, und Ella, die neben dem Brunnen den Eros-Exit 4 hinunterrannte und durch die Unterführung stürmte, mit hallenden Schritten, vorbei an Menschen, die nur Schatten waren, und zum Ausgang »Coventry Street« und da wieder hinauf, und jetzt in eine Seitenstraße, die nächste, die sich auftat.
    Hinter der Ecke stolperte sie, fing sich jedoch, bevor sie hinfiel. Mit einer Hand presste sie die Umhängetasche gegen die Brust, denn das Gedränge um sie wurde dichter. Aus den Pubs drang Musik, Gitarren und Bässe und Drums, begleitet von Gläserklirren und lauten Stimmen. Durch die schmalen Gassen zwischen kleinen Läden und winzigen Restaurants schoben sich haufenweise Touristen, Gruppen junger Russen mit rastlosen Augen und Bierflaschen in den Händen. Ältere amerikanische Ehepaare mit luftgepolsterten Laufschuhen und diebstahlsicheren Gürteln von Abercrombie & Fitch. Bärtige Rucksacktouristen aus Italien, Frankreich und Deutschland. Japaner mit Schirmkappen und Windjacken, ein schnatternder Pulk, der dem hochgereckten weißen Schirm in der Faust einer Reiseführerin folgte. Afrikaner. Pakistaner. Elegante Inder in fließenden bunten Gewändern. Junge Chinesen in schwarzen Anzügen, weißen Seidenhemden und auf Hochglanz polierten Schuhen. Betrunkene Iren.
    Ella achtete auf die, die anders waren. Die sich anders bewegten, angespannter. Die sich nicht um das Treiben zu kümmern schienen – die flackernden Lichter, die lauten Stimmen der Türsteher, die dröhnende Musik. Wieder bemerkte sie einen Mann in einem durchsichtigen Regencape, und diesmal war sie sicher. Er war etwa acht Meter entfernt. Er blickte nicht in ihre Richtung, hielt aber ein Handy ans Ohr.
    Er soll mir den Weg abschneiden.
    Sie ging schneller, duckte sich zwischen den Bummlern. Schon bald löste sich das Gedränge auf. An der Mündung der Gasse erblickte sie den Mann mit dem Pflaster, der gerade um die Ecke kam. Beim Gehen presste er etwas gegen den Oberschenkel. Ein zweiter Mann folgte ihm in einem Abstand, der so gering war, dass sie praktisch nebeneinander gingen. Der zweite Mann trug einen beigen Trenchcoat. Der Mann mit dem Regencape war nicht bei ihnen.
    Woher wissen die, wo ich gerade bin?
    An den Häusern prangten geheimnisvolle Schriftzeichen in Gold und Rot. Zwischen den Fassaden spannten sich Leinen mit rotgoldenen Ballons. Tattoo-Studios, Chinese Medicin Shops und Wahrsager teilten sich winzige Straßen. Ein Restaurant lag neben dem anderen: Red Dragon, Golden Dragon, Black Dragon, Drachen in allen Farben. Aus den offenen Türen roch es nach Räucherstäbchen, gebratenen Sojasprossen, Safran und gebackenen Enten. Auch in den Fenstern der Noodle Bars hingen rote Lampions. An den Scheiben klebten rissige Speisekarten mit verblassten Fotos von Nudeln mit Meeresfrüchten, glasiertem Geflügel und Rindfleischbrocken in Reisgerichten. Dahinter saßen die Gäste an niedrigen Holztischen dicht nebeneinander und tranken Reiswein aus eckigen Holzgefäßen oder Bier.
    Der Mann mit dem Regencape kam genau auf Ella zu. Sie schlug einen Haken nach rechts in eine schmale Straße am Dansey Place. Es war die falsche Entscheidung gewesen, denn nach einem kurzen Stück fast völliger Finsternis fand sie sich in einer kurzen Gasse aus graffitibeschmierten Mauern und unbeleuchteten Haustüren wieder. Als sie weiterging, streifte sie Kisten und Tonnen. Dann stolperte sie über eine Schubkarre und rutschte aus. Sie glitt über glitschigen Beton, stürzte und kroch auf Händen und Füßen weiter. Sie wartete darauf, dass der Lichtkegel einer Taschenlampe sie erfasste, aber es blieb dunkel, und sie hörte auch nichts; niemand hinter ihr.
    Sie rappelte sich wieder auf. Bei ihrem Sturz hatte sie sich die Stirn aufgeschlagen. Blut rann ihr über die Schläfe die Wange hinunter. Sie

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