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Nukleus

Nukleus

Titel: Nukleus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claus Cornelius Fischer
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Hintertüren der an den Hof grenzenden Häuser war die erste abgesperrt gewesen, auch die zweite hatte sich nicht öffnen lassen. Die dritte, schräg gegenüber, war unverriegelt gewesen. Ella hatte sich an einem halben Dutzend abgestellten Schubkarren vorbei getastet, drei Stufen hoch und hinter einem gefliesten Absatz wieder hinunter zur Vordertür.
    Die Shelton Street war eine stille Seitenstraße, und die wenigen Laternen standen weit auseinander. Die schmalen Gehwege waren gesäumt von Boutiquen internationaler Luxusmarken, die Schaufenster jetzt jedoch dunkel. Platanen raschelten im Wind. Kein Wa gen, der langsam an den geparkten Fahrzeugen entlangrollte, mit ausgeschalteten Scheinwerfern. Keine atemlos um die Ecken hetzenden Männer, nicht einmal ein später Jogger.
    Am Ende der leeren Straße leuchtete der Eingang zur U-Bahn-Station im Regendunst, aber Ella war sicher, dass sie dort zuerst nach ihr suchen würden, und ging daran vorbei, weiter in Richtung Leicester Square. Sie wusste auch nicht, ob zu dieser Zeit die U-Bahn überhaupt noch fuhr. Sie ging schnell, am liebsten wäre sie gerannt, aber sie ließ es, denn damit wäre sie aufgefallen.
    Sie dachte: Sie haben mich nicht gesehen. Es war zu dunkel. Doch dann dachte sie: Was ist, wenn sie das Haus schon beobachtet haben, als ich reingegangen bin? Dann wissen sie, wie ich aussehe. Oder wenn sie den Film auf YouTube gesehen haben. Dann wissen sie auch, wie ich aussehe.
    Wer waren diese Männer ? Sie wus s ten genau, was sie taten. Brutal. Professionell. Aber sie wollten Tori, und mit mir haben sie nicht gerechnet. Trotzdem halten sie womöglich nach mir Ausschau.
    Es war Samstagnacht, und zwischen Covent Garden und Leicester Square nahm der Verkehr zu, und immer mehr Vergnügungssüchtige bevölkerten die Gehsteige. Gut so, ich muss unter Leuten sein, unter vielen Leuten. Die hell erleuchtete Fassade eines Kinos tauchte die Straße in Neonglanz, und noch immer war ihr niemand gefolgt. Auf der Long Acre Street staute sich der Verkehr. Dutzende rote Rücklichter, die ihr zublinzelten wie entzündete Augen.
    Die Menschentrauben auf den Fußgängerwegen schienen alle von der gleichen, gedämpften Hysterie erfüllt. Mit knatternden Union-Jack-Fähnchen, Bierflaschen oder Pappbechern in den Händen strebten sie ihren Zielen zu. Auch zu dieser späten Stunde waren die allge genwärtigen Helikopter zu hören. Ihr pochendes Vibrieren verschmolz mit dem Straßenlärm. Vor oder hinter Ella erklangen immer wieder jau lende Sirenen, aber sie entdeckte keinen Polizeiwagen, kein blitzendes Blaulicht. Sie hängte sich an eine Gruppe kreischender Touristinnen aus Spanien, tat, als wäre sie auch unterwegs, um sich zu amüsieren. Und da, in diesem Moment, hatte sie den Mann mit dem blutigen Pflaster auf der Wange entdeckt. Sie entdeckte ihn und er sie, und sie fragte sich, wo die beiden anderen waren, von wo sie kommen würden.
    An der nächsten Kreuzung schob sich ein roter Doppeldeckerbus in ihr Blickfeld, und sie verlor den Mann mit dem Pflaster vorübergehend aus den Augen. Sie ging schneller. Ihre Bauchmuskeln verkrampften sich, und die nasse Jeans scheuerte an der Innenseite ihrer Schenkel. Ihr war so heiß, als hätte sie Fieber. Die Haut auf ihrer Stirn und den Wangen schien zu glühen. Immer wieder sah sie den Mann mit dem Pflaster auf der Wange für kurze Zeit.
    Es fing wieder an zu regnen. Der Regen war nicht sehr stark, aber kalt, und einige der Passanten gingen ebenfalls schneller. Da, durch eine Lücke im Strom der Autos, konnte Ella den Mann mit dem Pflaster wieder sehen. Er war stehen geblieben und sah sich suchend um, das Handy noch immer am Ohr. Mit der freien Hand wischte er sich die Nässe aus den Augen. Der Regen rann ihm in rot und blau schimmernden Rinnsalen über das Gesicht.
    Ella lief auf die Fahrbahn und winkte einem der schwarzen Taxis, das aber besetzt war und nicht hielt, und sie ging weiter und winkte dem nächsten Taxi. Auf der anderen Seite sah ihr Verfolger, was sie vorhatte, und versuchte hastig, die Straße zu überqueren, gerade als der Fahrer eines alten Austin aus dem langsam fließenden Verkehr ausscherte und zu ihr herüberzog.
    Rechts von ihr quietschten Reifen, gefolgt von einem jähen Hupkonzert. Sie sah, wie der Mann mit dem Pflaster zwischen den haltenden und fahrenden Autos über die Straße lief. Sie riss die hintere Tür des Taxis auf, stieg ein und schaute aus dem Seitenfenster. Der Mann mit dem Pflaster schlängelte sich

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