Nukleus
schlängelte sich mit Blaulicht und einem eigenartig trillernden Signalton um den Circus und bog nach links in die Lower Regent Street.
»An Piccadilly auch schönes Theater, berühmter London Pavilion und viele Geschäfte für junge Frauen«, nahm Mister Hakimullah seine Erklärungen wieder auf. »Im Theater gibt Die 39 Stufen, berühmtes Stück über Spionage, Hitchcock, sehr spannend, super.«
Als Ella wieder aus dem Rückfenster sah, stockte ihr der Atem, denn der Mann mit dem Pflaster hatte plötzlich eine Pistole in der Hand, eine Pistole mit Schalldämpfer, mit der er im Laufen auf das Fenster zielte, auf offener Straße. »Achtung«, schrie sie, »er schießt!«
»Nicht auf Mister Hakimullahs Fahrgast!« Der Fahrer bremste so abrupt, dass Ella nach vorn gegen die Rückenlehne geschleudert wurde. Sie hörte ein dumpfes Krachen hinter sich, als wäre etwas gegen die Karosserie geprallt. Dann beschleunigte das Taxi wieder, nutzte eine Lücke im Stau, um in die Glasshouse Street abzubiegen. Der Fahrer blickte in den Rückspiegel. »Da liegt jemand auf Straße«, sagte er. »Soll sich Erste Hilfe drum kümmern.«
Ella richtete sich auf und sah wieder raus. Ihr Verfolger lag auf der Seite, eine zusammengekrümmte schwarze Gestalt im Licht der Scheinwerferkegel, aber selbst jetzt umklammerte er noch Handy und Pistole, und er unternahm schon erste Anstalten, wieder aufzustehen. »Lassen Sie mich hier raus«, sagte Ella, »da rechts an der Ecke.«
Der schwarze Austin fuhr noch ein Stück in die Glasshouse und hielt am Bordstein. »Danke, Sie haben mir vielleicht das Leben gerettet!«, sagte Ella und bezahlte.
Der Fahrer spreizte sein fröhliches pakistanisches Lächeln. »Mister Hakimullah schon oft gerettet Leben. Hier, nehmen Sie Visitenkarte, für alle Fälle.«
Ella nahm die Karte, die er ihr hinhielt, sprang aus dem Taxi und mischte sich unter die Nachtschwärmer am Brunnen. Um sie herum floss glitzerndes Licht in alle Richtungen, eine Galaxie aus Neon – Neon-Coca-Cola, Neon-McDonald’s, Neon-Sanyo und Neon-TDK, und auf einmal war ihr zumute, als hätte sie keinen festen Boden unter den Füßen. Die Dunkelheit verschwand hinter Strömen bunter Elektrizität, die unablässig über die Fassaden rannen wie Wasserfälle aus Glühbirnen und Leuchtröhren. Auf dem nassen Asphalt spiegelten sich die Scheinwerfer und Rücklichter der Autos, und auf den Dächern der Autos und in den Fenstern der Busse das Rot von Coca-Cola, das Blau von TDK und das Weiß von Sanyo.
Auf den Gesichtern der Passanten lag der Widerschein des bunten Lichts. Einige trugen Hüte mit dem Union Jack darauf, ein paar hatten sogar Brillen mit Union-Jack-Gläsern. Jeder zweite schwenkte ein Fähnchen. Den Killer mit dem Pflaster auf der Wange konnte Ella nicht mehr sehen, dafür bemerkte sie einen Mann in einem durchsichtigen Regencape, der sich nach ihr umzuschauen schien. Doch im nächsten Moment war er verschwunden. Jemand rempelte sie an. Egal, sie achtete nicht mehr darauf. Sie hörte Musik und lautes Lachen und wieder Helikopter und die Sirenen von Polizei oder Feuerwehr. Sie schob sich weiter durch die Menge, hielt Ausschau nach dem Mann mit dem Pflaster auf der Wange und dem anderen in dem Regencape. Aber es gab viele Männer, die ihnen ähnelten, die auftauchten und wieder verschwanden vor der verwischten Kulisse aus Neon und Regen.
Sie wusste nicht, wohin sie sich wenden sollte. Sie sah mehrere U-Bahn-Eingänge mit der blauen Schranke im roten Kreis, und es gab auch mehrere Buslinien, die über den Circus fuhren, und sie hätte in einen der Busse einsteigen können, nur um von hier wegzukommen. Unruhig wechselte sie fortwährend ihren Standort, versuchte die Schilder der Straßen zu lesen, die auf den Platz mündeten: Shaftesbury Avenue, Coventry Street, Regent Street, Glasshouse Street.
Sie lief im Kreis. Immer wieder begegneten ihre Blicke den glänzenden Augen der lebenden Skulpturen, die ihr zu folgen schienen. Von seinem Podest aus sah ein goldener Wellington ihr mit geröteten Pupillen direkt ins Gesicht. Eine Queen, ganz in Silber, schaute schnell in eine andere Richtung, als Ella sich ihr zuwandte, und beide schienen auf ihren Nacken zu starren, als sie weiterging.
Annikas Praxis! Schlagartig wusste sie, wohin sie jetzt noch konnte; wo man sie gewiss als Letztes vermuten würde. Sie wollte gerade zum nächsten U-Bahn-Eingang laufen, als sie ihn sah. Für einen Moment teilte sich die Menge, und da war er – der Mann
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