Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Nukleus

Nukleus

Titel: Nukleus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claus Cornelius Fischer
Vom Netzwerk:
das er ebenfalls aus Annikas Praxis mitgenommen hatte, und drückte die Start-Taste. Am Anfang quietschten die Spulen leise, doch wenig später drehten sie sich geräuschlos. Anni sprach als Erste. »Wie ist es Ihnen seit unserer letzten Sitzung ergangen, Colin?«
    Ella beugte sich vor, um besser hören zu können. Es gab einen leichten Hall; die Stimmen waren wie aus großer Entfernung aufgenommen. Anni klang ganz anders als bei ihren letzten Anrufen, ruhig, abwartend, interessiert. Beim Klang ihrer Stimme wurde Ella erst klar, wie sehr sie ihre Freundin vermisste. Unterdessen wartete Anni auf die Antwort ihres Patienten. Es gab keine. »Sie sehen aus, als hätten Sie nicht besonders gut geschlafen«, sagte Annika.
    Wieder keine Antwort; stattdessen ein Seufzen, das lang und tief war. Aber erst als ihm ein leises, missmutiges Knurren folgte, begriff Ella, dass es sich um den Hund handelte. »Ronin«, murmelte sie.
    »Sie hat den Scheißköter zu einer Freundin gebracht«, erklärte Cassidy halblaut. »Nettes, altes Mädchen. Annabel Lee Lovelace. Hat keinen Computer und lebt sehr zurückgezogen. Sie denkt, Anni wär verreist, zu einem medizinischen Kongress.«Etwas raschelte auf dem Band, endlich sagte eine männliche Stimme: »Kalt bei Ihnen, finden Sie nicht?«
    »Eigentlich nicht«, sagte Anni. Sie klang etwas verwundert. »Die Heizung ist an.«
    »Sind wir allein?«, fragte die Männerstimme, und jetzt glaubte Ella, einen leichten Anflug von Panik mitschwingen zu hören.
    »Sehen Sie jemand außer uns?«, fragte Anni.
    »Ich wollte nur sichergehen«, sagte der Mann, bevor er wieder in ein lastendes Schweigen verfiel, das Anni nach einer halben Ewigkeit brach: »Worüber wollen wir heute sprechen, Colin?« Pause. »Colin?«
    »Wissen Sie, was ein Troll ist?«
    »Trolle sind Wesen – Riesen oder Zwerge –, die im Wald hausen«, antwortete Anni. »Hässliche, scheußliche Kreaturen. Sie überfallen Menschen und rauben ihre Kinder, um an ihrer Stelle die eigene Brut in die Wiege zu legen.«
    »Stimmt, das sind die in der Sage. Es gibt aber auch Trolle im Internet, da verhalten sie sich ganz ähnlich. Sie kommen aus dem Dunkel und legen überall Kommentare ab wie Maden ihre Eier, unter Artikeln oder in Chatrooms. Sie zeigen nie ihr Gesicht, und manche von ihnen benutzen viele Namen.« Schweigen. »Anders Breivig war ein Troll, bevor er zum Massenmörder wurde.«
    »Ich dachte, wir wollten da ansetzen, wo wir beim letzten Mal aufgehört haben. Wir waren gerade …«
    »Nein. Es ist etwas passiert. Etwas, das Sie wissen müssen.«
    »Hat es mit Trollen zu tun?«
    »Ja.«
    »Und mit Massenmördern?«
    »Ja.«
    »Haben Sie von ihnen geträumt? Von den Trollen?«
    »Nein. Ich bin ihnen begegnet.«
    »Wollen Sie mir von der Begegnung erzählen?«
    »Sind Sie sicher, dass wir allein sind?«
    »Ja. Ganz sicher.«
    »Kann ich mich woanders hinsetzen? Hier scheint es zu ziehen. Als wäre irgendwo eine Tür offen. Mir ist immer noch kalt.«
    Ein Scharren erklang, Schritte, dann knarrte Holz. Der Hund knurrte wieder. Annika fragte: »Besser so?«
    »Ja. Danke.« Einen Moment lang schwiegen beide, bis der Mann wieder sprach: »Sie sind in Gefahr, Doktor Jansen.« Er sagte das fast beiläufig, nur die Panik in seiner Stimme war noch da, vibrierend, leise drängend. »Jemand will Ihnen schaden.«
    »Die Trolle?«
    »Ihnen und allen. Allen, die Ihnen nahestehen. Jedem, der Ihnen etwas bedeutet«, fuhr der Mann fort.
    »Wie will er das tun?«
    »Er will Sie töten. Sie und alle anderen.«

4 5
    Annika blieb ganz ruhig, nicht anders, als wenn der Mann gesagt hätte: Er will Sie zum Essen einladen . Gelassen, mit einem leisen Anflug von Befremden, fragte sie: »Sie auch, Colin? Will er Sie auch töten?«
    »Ja. Mich auch.«
    »Woher wissen Sie das?«
    »Das kann ich Ihnen nicht sagen.«
    »Warum nicht?«
    »Sie wollen es nicht.«
    »Wer? Die Trolle?«
    Wieder Stille. Ella spürte, dass Cassidy sie ansah, aber sie erwiderte seinen Blick nicht. Seine Huskyaugen waren zusammengekniffen, konzentriert, als stünde er im Begriff, eine Bombe zu entschärfen. Zwei schmale rötliche Schlitze, mehr war von ihnen nicht mehr übrig.
    Als Annika wieder sprach, weil der Patient nicht antwortete, hatte ihre Tonlage sich verändert. »Colin, wissen Sie noch, warum Sie Anfang letzten Jahres zu mir gekommen sind?«
    »Ja.«
    »Weswegen?«
    »Wegen meiner Wut. Weil ich so aggressiv war.«
    »Genau, Sie waren wütend und aggressiv. Sie haben Autos in

Weitere Kostenlose Bücher