Nukleus
Brand gesetzt und bei den Krawallen Geschäfte geplündert, obwohl Sie ein talentierter Maler sind, ein Graffiti-Künstler. Wissen Sie noch, wie Sie mir Ihre Goya-Übermalung gezeigt haben – Saturn frisst seine Kinder? Brillant. Mutig. Sie hatten vor nichts Angst.«
Ein leises Rauschen legte sich über den Ton, offenbar war das Band an dieser Stelle abgenutzt. »Jetzt kann ich es Ihnen ja sagen, aber Sie waren mir immer ein bisschen unheimlich, weil ich gespürt habe, wie es in Ihnen brodelt. Und weil mir klar geworden ist, dass die ganze Wut, diese Aggression nur etwas anderes verbirgt – eine tiefe, tiefe Verzweiflung. Ich dachte, wir hätten in der ganzen Zeit bereits einige Fortschritte gemacht. Deswegen frage ich mich: Woher kommt auf einmal diese Angst?«
»Ist Saturn nicht ein Planet?«, fragte Cassidy und sah in Ellas Richtung, ohne ihr direkt in die Augen zu schauen.
»Der zweitgrößte des Sonnensystems«, bestätigte Ella und hatte das Gefühl, wieder ein Puzzlestückchen entdeckt zu haben, ohne jedoch zu wissen, wo es hingehört.
Der Mann sagte: »Das ist erst der Anfang. Wir sind nur der Anfang. Kennen Sie dieses Gedicht The Sorcerer’s Apprentice von Goethe?«
»Der Zauberlehrling« , bestätigte Ella. »Das lernt man bei uns in der Schule.«
»Es wird geschehen«, sagte der Mann. »Ich fühle es in mir, in meiner Brust – wie eine Hand, die mir das Herz zerquetscht. Es wird geschehen, und niemand kann es aufhalten.« Seine Stimme war jetzt so leise, dass Ella sie kaum verstehen konnte. Es kam ihr vor, als wäre das Rauschen nicht auf dem Band, sondern in ihrem Kopf. Ihr Nacken war kalt, aber ihr Gesicht war heiß.
Annika fragte: »Hatten Sie dieses Gefühl früher schon mal?«
»Nein. Noch nie.«
»Ich sehe, dass Sie zittern. Ist Ihnen immer noch kalt?«
Der Mann antwortete nicht.
»Was haben Sie denn?«
»Er ist hier.«
»Wer? Wo ist er?«
»Hier. In mir. Hinter meinem Gesicht.«
»Wie ist er dort hingelangt?«
»Wie er überall hingelangt. Durch LifeBook.«
Das Rauschen wurde stärker. »Von wem reden Sie?«, fragte Anni, und jetzt klang ihre Stimme zum ersten Mal wirklich besorgt.
Er antwortete nicht direkt. Stattdessen sagte er: »Es ist, wie wenn man mitten in der Nacht aufwacht und spürt, dass in dem Raum, in dem man schläft, eine Veränderung vorgegangen ist. Dann merkt man, dass der Raum sich gar nicht verändert hat, sondern etwas in einem selbst. Krebskranke erzählen davon, dass sie spüren, wie sich die weißen Zellen in ihrem Blut vermehren. Wie sich die Zellen, die sie töten, zusammenrotten. Es ist so ein winziges Geräusch, ein Ticken oder Klicken, und dann ist man wieder ein Stück weitergegangen.«
»Wohin gegangen?«
»Auf den Abgrund zu. Auf das offene Fenster.«
»Können Sie mir das erklären?«
»Ich will Ihnen etwas zeigen.« Ein Rascheln, dann ein kaum hörbares Schnappen. »Ich habe ein Foto, hier, auf dem Handy. Haben Sie das schon mal gesehen? Jemand hat es The Falling Man genannt.«
»Wer ist das?«
»Niemand weiß, wer das ist. Es ist das einzige Foto von einem der Menschen, die am 11. September 2001 aus den brennenden Twin Towers gesprungen sind, nachdem die Flugzeuge hineingekracht waren. Er sieht aus, als würde er einen Kopfsprung in einen Swimmingpool machen. Als wäre er endlich frei. Jemand hat gesagt, er könne aber gar nicht gesprungen sein, denn in die Arme Gottes könne man nicht springen, in die könne man nur fallen. Denn dort sei er jetzt, in den Armen Gottes.«
»Woher haben Sie das?«
»Jemand hat es mir geschickt. Einer von denen, die mir schreiben. Es redet mit einem. Es sagt: So geht es! Ich kann fast spüren, wie die Luft um mich herum rauscht, wie alles zurückbleibt, das Feuer, die Schreie, die brennenden Menschen.«
»Was hat das mit LifeBook zu tun?«
»Sind Sie denn blind?« Der Mann schrie plötzlich, und Ella zuckte zusammen. »Haben Sie gar keine Antennen für das, was um Sie herum vorgeht? Er benutzt Ihr Netzwerk, um Killer zu finden – Menschen, die er in Mörder verwandeln kann. Er durchforstet alle Profile, liest alle Texte, wertet alle Bilder aus, sammelt alle Daten, alles, was die Nutzer freiwillig posten. Und wenn er einen geeigneten Kandidaten gefunden hat – einen, der bereit ist, zu springen –, beginnt er mit der Arbeit.«
»Wissen wir schon«, sagte Cassidy zu dem Tonbandgerät.
Annika stellte nur eine Frage: »Wie?«
Der Mann sagte: »Jeden, der weiß, wie er es macht, werden sie
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