Nukleus
taucht dann – weil es sich ja um jemanden handelt, der Hilfe sucht – eine dieser E-Mail-Adressen in diversen Foren und Chatrooms auf, zu denen man sich kinderleicht Zugang verschaffen kann. Da erfährt er dann mehr darüber, welche Probleme die Zielperson hat, was ihr schon geraten wurde, was nichts gefruchtet hat. Wie sie sich ausdrückt und verhält – intellektuell, prollig, aufgeschlossen, rechthaberisch und so weiter … was sie für kleine oder große Hoffnungen hat, welche Enttäuschungen hinter ihr liegen, welche seelischen Katastrophen.«
»Beispiel?«, fragte der andere, der jüngere, mit breitem Cockney-Akzent.
»Beispielsweise«, antwortete der ältere, »verraten ihm ihre Fragen oder Beiträge in einem Web-Gesundheitsforum vielleicht, dass sie vor drei Jahren Asthma hatte und dass ihr Zustand sich seitdem verbessert oder verschlechtert hat. Wer einmal Rat bei einem Diskussionsforum gesucht hat, tut das meistens danach öfter, und manchmal bestellt die Zielperson ein Medikament, das ihr empfohlen wurde, unter ihrem richtigen Namen bei einer Internetapotheke, die meistens nur primitive IT-Sicherheitsvorkehrungen haben. Manchmal taucht ihre E-Mail-Adresse auch mehrmals auf, in einem Schwulenforum, einer Aids-Selbsthilfegruppe, bei Amazon oder iTunes, man findet Mails und Tweets und gepostete Texte. Mit dem richtigen Programm hat unser Mann schnell den Klarnamen der Zielperson oder zumindest eine zuverlässige Adresse, und er weiß, ob sie schwul oder hetero ist, was sie gerne isst und trinkt, wo sie das Zeug einkauft, ob sie bar bezahlt oder mit Kreditkarte oder auch mal gar nicht, ob sie lieber Fahrrad, Bus oder U-Bahn fährt und ob sie bei einem Print-on-Demand-Shop im Internet ein T-Shirt mit Rettet die Wale oder I love Mama hat drucken lassen.«
Ein Hustenanfall verschlug ihm für einen Moment die Stimme. Als er weitersprach, klang es, als hätte er eine feuchte Raspel in der Kehle. »Die meisten Menschen, die mit verschiedenen Pseudonymen unterwegs sind, benutzen Teile ihres Klarnamens als Kürzel oder Anagramme, die sich kinderleicht dechiffrieren lassen. Sie posten Bilder mit Ausschnitten ihres Körpers, ihrer Kleidung, ihres Lieblingstiers. Wenn ich Samson bin, entgeht mir nichts. Wie sieht meine Zielperson aus? Wie ein schwuler Asthmatiker, der Wale toll findet und seine Mutti liebt und nicht genug Geld hat, um sich was Ordentliches zum Anziehen zu kaufen? Wie eine Lesbe mit Ödipus-Komplex? Wie ein Casting-Show-Tenor mit Kassengestellbrille? Und wer sind ihre Freunde? Hat sie mehr männliche oder mehr weibliche oder ist ihr Hund der einzige? Was kann ich ihrem Verhältnis entnehmen, was empfehlen sie ihr, was teilt sie mit ihnen? Ich überprüfe alle ihre Freunde, falls sie welche hat, ziehe meine Rückschlüsse, überlege mir, welche ich ihr meinerseits schicken könnte. Ich schalte mich unter verschiedenen Namen in Foren und Chatrooms ein, nehme Kontakt mit ihr auf, gebe ihr Ratschläge, schicke ihr ein Link zu meinem Panopticon unter oder hinter der Academy. Wir sind immer noch in der Phase der grobmaschigen Netze, wohlgemerkt.«
»Moment mal! Wie war das?«, rief Cassidy plötzlich. »Haben Sie das gehört, Doc?«
»Was denn?«, fragte Ella, während sie auf den Bildschirm des zweiten Computers starrte und die Suchergebnisse überflog, die Google ihr auf ihre Anfrage vorschlug. »›Wenn ich Samson bin, entgeht mir nichts‹ – meinen Sie das?«
Hinter der Lautsprechermembrane ließ die Lunge des älteren Mannes zischend Dampf ab, bevor er verkündete: »Bald weiß ich alles über meine Zielperson. Ich weiß, was sie liest, was für Musik sie hört, welche Filme sie sich reinzieht. Ich weiß, wo sie arbeitet, falls sie noch Arbeit hat. Ich kenne ihre Schuhgröße, ihre Kreditkartennummer, ihre Urlaubsziele. Ich weiß, was sie sich wünscht, was sie braucht, was ihr gefällt, sogar was sie denkt. Ich folge ihr. Ich weiß jederzeit, wo sie ist, ihr Handy verrät es mir. Ich kenne sie besser als sie sich selbst, weil ich nicht sie bin. Ich unterliege keiner Selbsttäuschung. Sie wird berechenbar für mich, und ich fange an, sie zu berechnen. Soweit mitgekommen, Ian?«
»Das ist alles, MacLean?«, fragte der jüngere Mann mit dem Cockney-Akzent. »Wenn das alles ist, wozu brauchen wir dann Samson überhaupt? Das machen wir doch selbst andauernd.«
»Ist eben nicht alles«, erklärte MacLean. »Wir sind Dinosaurier. Samson ist eine neue Spezies, hervorgegangen aus den neuen Medien: Er
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