Nukleus

den Krebspatienten erinnern, der sein Leiden und Sterben ins Netz gestellt hat, auf Facebook, bei YouTube? Fotos, Filme, Gedanken zur Krankheit, zum Tod, in die Kamera gesprochen? Der sein Elend kollektiviert und auf Abertausende von Schultern verteilt, in Zigtausende von Herzen gesenkt hat? Siebzigtausend Gefällt mir -Klicks nach wenigen Wochen, und es wurden immer mehr. So wurde es am Ende fast berauschend für ihn, zu sterben, fast als gäbe er ein Rockkonzert vor Tausenden von begeisterten Fans. Ist das nicht verführerisch? Ist das nicht schön? Muss man dafür wirklich krank sein? Nimm noch andere mit, und der Rausch, das Glücksgefühl wird noch stärker sein, mit jedem Klick, den dein Film erzielt, auch wenn du ihn selbst nicht mehr sehen kannst. Du weißt es vorher. Du hast es bei den anderen gesehen! Aber – aber! – woher weißt du, dass es nicht nur einer war, er, der dir mithilfe eines von ihm geschriebenen Programms die siebzigtausend Klicks geschenkt hat? Dass es nicht nur ein einziger Mensch war? Du wirst es nie erfahren, nicht?«
    Ella rückte noch ein paar Zentimeter weiter. »Mit wem arbeiten Sie zusammen?«, fragte sie und dachte: Er ist es nicht, er deckt jemanden, jemanden, der sich hinter ihm versteckt, vielleicht sogar hinter seinem Sohn …
    Der Professor ging nicht auf ihre Frage ein, sondern redete einfach weiter. »Auf der Basis von alldem habe ich eine Software für menschliche Gefühle entwickelt, die alle weltweit verfügbaren Informationen zu den Begriffen ›Liebe‹, ›Tod‹, ›Angst‹, ›Hoffnung, ›Schuld‹, ›Neid‹ oder ›Begehren‹ als Status-Updates enthält. Das Programm ist so geschrieben, dass es allmählich den Inhaltscode dieser Worte neu definiert. Zunächst verwischt es die bisherige Bedeutung, schwächt sie ab, gleicht sie dem Gefühlshaushalt des Kandidaten an, bevor die Neubesetzung herausgearbeitet und Schritt für Schritt verstärkt wird. Tod ist nicht das Ende, sondern das Ziel des Lebens, Angst führt zu Hoffnung, Einsamkeit zur Freundschaft, Freundschaft ist wichtiger als Leben. Der Kandidat wird geimpft mit Tausenden von neuen Informa tionen, versteckt in den Nachrichten von Freunden, in E-Mails, Tweets, Gesprächsbeiträgen in Chatrooms und Foren, in Videos und Fotos auf den Seiten, die er regelmäßig besucht, in den Büchern, die ihm empfohlen wurden, in Liedern, Filmen, Clips. So lange, bis er nicht mehr unterscheiden kann, wo er aufhört und die anderen beginnen. Nicht mehr für sich selbst verantwortlich sein zu müssen, kann ein unvorstellbares Suchtpotential entwickeln.«
    Die Gondel war über den höchsten Punkt ihrer Umlaufbahn hinaus und sank Millimeter für Millimeter auf der anderen Seite des Rads wieder hinunter, und Gershenson redete schneller, als wollte er fertig werden, bevor sie unten ankamen – bevor er sie töten musste. »Gibt es denn außerhalb der Kirchen und Religionen noch gemeinsame Bezugssysteme, Regeln, an die alle glauben, Grundlagen, auf die sich die Gemeinschaft geeinigt hat? Wir haben einfach den Überblick verlo ren. Die meisten Menschen sind längst untereinander inkompatibel, so als liefen alle auf verschiedenen Betriebssystemen und mit unterschiedlicher Software. Jeder verarbeitet Informationen auf eine andere Weise. Es gibt Gesetze, ja, aber kaum einer hält sich noch daran. Fast alle staatlichen Autoritäten sind unglaubwürdig geworden. Die Verunsicherung wird täglich größer. Das liegt daran, dass die letzten Jahre zu schnell zu viele Veränderungen mit sich gebracht haben. Die meisten Menschen fühlen sich veraltet, dem neuen Arbeitstempo des Lebens nicht mehr gewachsen. Banken brechen zusammen, das Geld ist nichts mehr wert, immer mehr Leute verarmen, ganze Länder taumeln in den Staatsbankrott, während gigantische Konzerne die Erde ausbeuten, die Schulden wachsen der Menschheit über den Kopf, und gleichzeitig verfügen einige Einzelne über unermessliche Reichtümer. Überall wächst die Angst, abgekoppelt zu werden, nicht mehr zu verstehen, wie man leben soll, und plötzlich ruft neben einem jemand mit dunkler Hautfarbe Allah, anstatt zu Gott zu beten, wenn er überhaupt noch an etwas glaubt.«
    Die Hand mit dem Revolver sank herab, und Ella dachte: Jetzt, Cassidy, jetzt tu doch was, es geht um Anni, um ihr Leben, um unser Leben! Die Agenten waren bestimmt schon in Wandsworth, vielleicht parkten sie gerade ihren Wagen auf dem Klinikgelände, stiegen aus, gingen auf das Eingangstor zu.
    »Also muss