Nukleus
vor. Er packte einen feinen Spatel, wie ihn Maler zum Abkratzen getrockneter Farbe von der Leinwand benutzen, und hieb damit auf das Handydisplay ein. Danach rammte er sich den Spatel in die Kehle, wo er ihn mehrmals umdrehte.«
Ella schwieg betroffen. Das Sonnensytem, dachte sie, das London Eye, und ein Junge, der glücklich war, wenn er ein Riesenrad anschaute, in dessen Gondeln er sich geborgen fühlte. Einen Moment lang hörte man nur das leise Zerren des Windes an der Glaskapsel.
Cassidy wurde ungeduldig: »Weiter! Wie geht der … der Teufel vor, wenn er seine Opfer – oder Täter – gefunden hat?«
Gershensons Schultern sanken noch weiter vor, während sich seine Hände in den Manteltaschen zu Fäusten ballten. »Anders Breivik«, sagte er, »der norwegische Massenmörder, hat bei seinem Prozess 2012 gesagt …«
Ella hatte das Gefühl, dass der Luftdruck in der Gondel sich veränderte; als nähme der Sauerstoffgehalt ab und verlange größere Anstrengungen von ihrer Lunge. »Scheiß auf Breivik!«, rief sie. Sie funkelte Gershenson an. »Scheiß auf Colin Blain! Scheiß auf den Teufel! Ich will wissen, ob Sie eine der Kliniken, die ich Ihnen gemailt habe, kennen. Ob Annika da sein könnte! Ich glaube … wir glauben «, sie sah Cassidy an, »dass sie einen Suizidversuch vorgetäuscht hat und danach in das Krankenhaus in Wandsworth eingeliefert worden ist. Kennen Sie die Mills Clinic?«
»Ja«, jetzt sah der Professor flüchtig auf seine Uhr, »die kenne ich.« Er drehte den Kopf und blickte themseaufwärts, als könnte man das Krankenhaus von seinem Platz aus sehen. »Aber wenn Sie wissen wollen, wie Blain und die anderen …«
»Will ich! Ich will alles wissen, aber nicht jetzt! Jetzt will ich Anni finden! Hinterher, wenn sie …«
»Ach«, sagte Gershenson, »hinterher werden wir vielleicht alle tot sein. Die Gondel wird wieder unten ankommen, und schon da ist es vielleicht zu spät. Deswegen …«
»Ich will es wissen!«, fuhr Cassidy dazwischen. »Reden Sie! Sie waren bei Anders Breivik stehen geblieben.«
»Anders Breivik hat bei seinem Prozess in Oslo gesagt, dass er das Jahr vor dem Massaker auf der Insel damit zugebracht hat, sich zu ›entmenschlichen‹, um seine Mission erfüllen zu können. Ein Jahr lang hat er daran gearbeitet, alle Gefühle in sich abzutöten, seine Fähigkeit zum Mitleid, zur Anteilnahme zu zerstören, bis er in seinen Opfern keine Menschen mehr sehen musste. Bis er buchstäblich ein Mensch ohne Gegenüber geworden war. Und er hat gesagt, dass er sich das Leid der Angehörigen der Opfer nicht vorstellen konnte, denn wenn es ihm möglich gewesen wäre, wenn er sich in sie hätte hineinversetzen können, sagte er, dann wäre es ihm unerträglich gewesen. Dann hätte er nirgendwo mehr leben können, vor allem nicht in sich. Diesen Prozess der Entmenschlichung übernimmt die Academy für die … nun, sagen wie die Kandidaten. Sie hilft ihnen dabei, bestärkt sie darin, ermutigt sie, erklärt ihnen, dass es der richtige Weg ist.«
Wieder konsultierte er die Uhr mit einem Seitenblick, und Ella spürte, wie ihr Gefühl, in eine Falle geraten zu sein, stärker wurde. Sie versuchte, Cassidy ein Zeichen zu geben.
»Natürlich«, redete der Professor weiter, »gelingt das am besten bei jemandem, bei dem dieser Prozess schon eingesetzt hat, bevor die Academy ihn ausgesucht hat. Genauer, sie rekrutiert ihn vor allem eben deshalb, weil dieser Prozess schon eingesetzt hat: zum Bei spiel bei Soldaten, die aus einem Kampfeinsatz zurückkehren und an PTS leiden, dem sogenannten Posttraumatischen Stresssyndrom. Ihre Rekrutierung fällt besonders leicht, weil sie verstört und gleichzeitig überaus aggressiv sind. Manche unter ihnen suchen von sich aus Hilfe, doch die wird ihnen weder durch die Armee noch die Gesellschaft oder ihre Freunde und Familien zuteil. Junge Männer kehren verwirrt und verroht in eine Welt zurück, die nicht mehr die ihre ist, für die sie Fremde geworden sind. Sie fühlen sich im Stich gelassen, und ihre Aggression richtet sich gegen jeden und alles, ganz besonders jedoch gegen sich selbst, und damit bringen sie die besten Voraussetzungen für Selbstmordattentate mit. Das Ziel ist, Menschen aus dem Angebot herauszufiltern, die einen weniger differen zierten Gefühlshaushalt – kombiniert mit einer erhöhten Anpassungs sehnsucht – vorweisen.«
Je höher die Gondel stieg, desto größer schien die Stadt unter ihr zu werden, ein flimmerndes Spiegelbild des
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