Nukleus
man nur ein neues Bezugssystem für menschliche Zu- und Abneigung schaffen«, der Professor hob den Revolver, »jemand muss für dich da sein, je mehr Menschen desto besser. Viele. Mit unterschiedlichen Stimmen, aber sie sind deine Freunde, sie glauben an dich. Versprechen Hilfe. Besserung. Aber du musst mir auch helfen. Erzähl mir etwas über deine Familie, deinen Nächsten, deinen Nachbarn! Wer sind sie? Was tun sie? Wo kommen sie her? Magst du sie, oder sind sie dir unangenehm? Was stört dich an ihnen? Ist ihr Leben nicht besser als deins? Willst du sie ändern? Kannst du sie ändern? Oder möchtest du, dass sie weg sind? Willst du, dass alles so bleibt? Willst du alles hinnehmen oder ein Zeichen setzen? Willst du respektiert werden? Willst du Liebe? Bewunderung? Du musst dir nicht alles gefallen lassen! Es gibt Menschen, die sich umbringen, weil sie gedemütigt und gemobbt werden. Warum töten die nur sich selbst? Warum nicht auch die, die an ihrem Elend schuld sind? Es ist doch bloß ein kleiner Schritt. Wie viel fehlt zu diesem kleinen Schritt? Ich zeige dir, wie du ihn gehen kannst und dafür respektiert, bewundert und geliebt wirst! Kümmere dich nicht um das, was die anderen denken; was du selbst bisher gedacht hast, weil die es so wollten. Mach deine eigenen Spielregeln, so wie wir. Benutze deinen freien Willen, Gottes Geschenk an die Menschen. Nur wer den Mut hat zu töten, ist wirklich frei. Gottes Ebenbild. Schau dir den Film auf YouTube an, wo ein Seelsorger in Berlin einen ganzen U-Bahn-Wagen in Flammen aufgehen lässt. Siehst du sein Lachen, seine erlöste Ekstase?«
Ella betrachtete die entrückte Miene des Professors. Die Intensität, mit der er sprach, erweckte den Eindruck, als versuchte er sich selbst davon zu überzeugen, dass tatsächlich er es war, der das Programm entwickelt hatte. »Verstehen Sie«, fuhr er fort, »zuerst war das Programm so geschrieben, dass es vor allem Menschen herausfiltern sollte, die unsere existierenden sozialen Spielregeln von sich aus ignorierten, aber die waren kaum formbar. Dann bin ich auf die Idee gekommen, dass ich Menschen finden muss, die immer noch als soziale Tiere denken. Die zu einer Herde gehören wollen. Dann musste ich ihnen suggerieren, dass ihre neue Herde die einzige Herde ist, die zählt. Ihr soziales Sonnensystem. Wenn das geschehen war, bestand der nächste Schritt darin, sie glauben zu lassen, dass die Herde ihre Spielregeln geändert hätte, und wenn sie kompatibel bleiben wollten, müssten sie ihre Software auch ändern. So mussten, zum Beispiel, die Begriffe ›Tod‹, ›Sterben‹ und ›Töten‹ von Assoziationen wie ›Ende‹, ›Schuld‹ oder ›Strafe‹ gelöst werden.
Es stellte sich schnell heraus, dass überraschend viele Menschen lediglich fortwährende Kontrolle und klare Anweisungen brauchen, um glücklich zu sein. Ich schenke ihnen Freunde bei LifeBook oder nehme sie ihnen wieder weg. Ich erhöhe die Zahl ihrer Follower, wenn sie twittern, was ich von ihnen hören will, und reduziere sie wieder, falls sie auf Abwege geraten oder ihr Ohr den falschen Stimmen öffnen. Wenn nötig, sorgen Legionen von Trollen dafür, dass sie dort niemanden finden, keine Antwort, keinen Trost, nur Hohn und Ablehnung. Freunde sind eine Währung im Internet, sie sind dein Reichtum, und nach Followern kann man süchtig werden. Ihr Verlust schmerzt. Erst schreibt und sagt mein Kandidat, was sie hören wollen, wozu sie ihn ermuntern. Dann tut er, was sie wollen, bloß damit sie den Like -Button drücken. Schließlich geben sie ihm ein Ziel, einen Ort, eine Gelegenheit, einen Vorwand. Es ist im Grunde nur die weitergedachte Idee des Panopticons.«
Jetzt konnte DI Cassidy nicht mehr an sich halten. »Was, zum Teufel, ist denn dieses gottverdammte Panopticon?«, brüllte er.
»Ah, natürlich, wie dumm von mir!« Gershenson legte die Stirn in betrübte Falten. »Als Panopticon bezeichnete der englische Philosoph und Jurist Jeremy Bentham das Modell des idealen Gefängnisses, das er im 19. Jahrhundert entworfen hat. Das Gebäude ist so konstruiert, dass von einem zentralen Punkt aus alle Gänge und Zellen überwacht werden können, und zwar von einem Minimum an Wachpersonal. Als wäre es ein Rad, mit der Nabe in der Mitte und den Speichen, die die Gefangenen beherbergen. Die Wärter können jederzeit jeden Häftling sehen, aber die Häftlinge können umgekehrt sie nicht erkennen, denn der Beobachtungsposten liegt im Dunklen, während ihre Kerker in
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