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Nukleus

Nukleus

Titel: Nukleus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claus Cornelius Fischer
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hat, dachte Ella bitter; in denen sie Ihnen alles erzählt hat, vor allem das Konzept von LifeBook. In denen Sie Anni so gut kennengelernt haben, dass Sie jeden ihrer Gedanken lesen, jede ihrer Regungen nachempfinden konnten, bis Sie in der Lage waren, das Negativ von ihrem Positiv zu ziehen und zu zerstören, was sie erschaffen hatte. Und jetzt sind sie wahrscheinlich schon auf dem Weg zu Anni. Selbst wenn wir hier lebend rauskommen, werden sie sie töten, weil wir zu spät kommen.
    »Ich verstehe immer noch nicht, wie das funktioniert«, sagte Ella, um Gershenson abzulenken. »Ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass man jemanden, mit dem man nie von Angesicht zu Angesicht gesprochen hat, dazu bringen kann, sich selbst das Leben zu nehmen. Egal, wie verzweifelt und zerstört jemand ist. Wie soll das gehen? Wie entmenschlicht man einen Menschen?«
    Cassidy nickte ihr unmerklich zu. Weiter so.
    Gershenson lächelte, fast mitleidig, wie es Ella schien. »Stellen Sie sich vor, ich wäre er«, sagte er. »Wie gehe ich vor? Zuerst entziehe ich meinem Kandidaten die Fähigkeit, wie ein Mensch zu fühlen, indem ich ihm nach und nach die Gesellschaft anderer Menschen nehme. Das wird heutzutage immer einfacher. Erst vor Kurzem hatte ich in meiner Praxis den Fall eines jungen Mädchens, das mit Blumentöpfen nach einem schreienden Baby auf dem Balkon unter sich geworfen hatte. Ich behandle einen internetsüchtigen Jungen, fast achtzehn Jahre alt, der so wenig Interesse für die Realität außerhalb des Netzes aufbringt, dass er nicht zwischen vertrauter und fremder Umgebung oder bekannten und unbekannten Menschen unterscheiden kann. Er kann nicht begreifen, dass etwas, das er cool oder witzig findet, jemand anderem wehtut. Das ist der Rohstoff, das Material, nach dem man Ausschau halten muss!«
    Cassidy warf einen verstohlenen Blick auf seine Armbanduhr, aber Gershenson hatte es bemerkt. »Es sind erst zehn Minuten«, sagte er, als könnte er ihre Unruhe nicht verstehen, wo sie doch ohnehin alle sterben mussten, wenn die Gondel unten ankam. »Sechshundert Sekunden. Zeit ist nur eine Aneinanderreihung von Zahlen. Wie Menschen, egal, ob sie im Netz leben oder da unten in den Straßen herumwimmeln. Sie werden durch jeden Tastendruck berechenbarer, und ich berechne sie.«
    Er sah durch die Glasrundung am Boden der Kapsel und schien plötzlich nicht mehr mit Ella zu sprechen, sondern zu den unsichtbaren Menschen in den Straßen der Stadt tief unter seinen Füßen. »Ich zeige euch, wie euer Leben leichter werden kann, wenn ihr etwas weniger hiervon tut und etwas mehr davon. Ich tausche euer soziales Umfeld aus, echte Freunde – falls ihr noch welche habt – durch die fiktiven Freunde auf LifeBook. Ich stumpfe euch weiter ab gegen das eine und sensibilisiere euch für das andere. Und ich verändere nach und nach eure Erinnerungen. Ich färbe sie ein, setze die Akzente anders. Ganz allmählich, Zahl für Zahl, gestalte ich die Wahrnehmung eures eigenen Lebens neu, lasse es in einem anderen Licht erscheinen, durch genau berechnete Fragen, durch Interpretation in Kommentaren zu euren Antworten. Wahrheit ist das, woran wir uns erinnern, und wenn wir uns nicht mehr richtig erinnern, kann man eine falsche Wahrheit schaffen. Genug falsche Wahrheiten schaffen ein falsches, ein von mir entworfenes Leben, das euch nicht mehr lebenswert erscheint. Ich spreche nicht nur mit einer Stimme, sondern mit vielen. Die Stimmen werden zum Sinn eures Lebens. Ihr müsst alles tun, um nicht auch diesen Sinn noch zu verlieren. Meine Stimmen – ich, die Academy, eure neuen Freunde! – schaffen ein verändertes moralisches Ordnungsprinzip und damit eine andere soziale Kontrolle. Wir bauen einen ständig zunehmenden Überwachungsdruck auf, schaffen Schritt für Schritt eine so intensive Abhängigkeit, dass ihr lieber sterben würdet, als mich zu enttäuschen. Bis ihr lieber sterben würdet, um eure neuen Freunde nicht zu verlieren. In erster Linie«, er breitete die Arme aus, als wollte er sich für einen allzu billigen Zaubertrick entschuldigen, »ist alles eine Frage der Rechenkapazität.«
    Ella spürte, wie Cassidy sich neben ihr anspannte, bereit, aufzuspringen. Vorsichtig rutschte sie ein paar Zentimeter von ihm weg zum Ende der Bank.
    Gershenson schüttelte tadelnd den Kopf und richtete den Revolver wieder auf den Detective Inspector. »Ich weiß nicht«, er beugte sich vor, als läge ihm tatsächlich eine Frage auf dem Herzen, »ob Sie sich an

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