Nukleus
sind Sie auf die Idee gekommen, völlig fremde Menschen zu Mördern zu machen?«
Gershenson antwortete nicht. Er wirkte, als habe er nun selber Mühe, seine Worten zu glauben. Sein Gesicht wurde schlaff und müde.
»Dem Verbrechen an die Macht zu verhelfen, waren das nicht die Worte, die Sie zitiert haben?«, sagte der DI. »Wer hat denn ein Interesse an der Herrschaft des Verbrechens?«
Auch darauf antwortete der Professor nicht.
»Gestern Abend haben Sie gesagt, Ihr Ziehsohn Oliver sei schwierig«, sagte Ella. »Was haben Sie damit gemeint?«
Gershensons Miene belebte sich wieder, als hätte Ella etwas angesprochen, das ihn viel mehr interessierte als die Herrschaft des Verbrechens über Himmel und Erde.
»Sie sagten, er hätte Angst, wenn niemand zu Hause sei«, sagte Ella. »Ist er denn immer zu Hause?«
»Ich kontrolliere ihn nicht«, sagte der Professor. »Sein Zimmer ist im Keller, und der Keller hat einen eigenen Eingang. Aber ja, er ist eigentlich immer zu Hause, in seinem Zimmer. Mit seinem Computer und seinen Tieren.«
»Was für Tieren?«
»Exotischen Tieren, möchte ich meinen. Aus Holz oder Ton oder woraus immer solche Tiere sind. Drachen. Kröten mit Flügeln. Einhörner, eine ganze Sammlung.«
»Hat er Zugang zu Ihrem Computer?«
»Nein.«
»Er kennt Ihr Passwort nicht?«
»Ich weiß nicht … ich glaube nicht, nein.«
»Ist Ihre Praxis in der Wohnung?«
»Nicht in der Wohnung, aber im gleichen Haus, ja.«
»War Oliver in der Nähe, wenn Sie Annika in Ihrer Praxis empfangen haben? Konnte er hören, worüber Sie gesprochen haben?«
»Ich weiß nicht, ob er in der Nähe war. Manchmal bestimmt. Aber was für ein Interesse sollte er daran haben, zu hören, was ich mit meinen Patienten bespreche?«
»Nicht mit allen Patienten. Nur an dem, was Annika Ihnen erzählt hat, über LifeBook. Sie hat doch schon mit Ihnen darüber gesprochen, als die Plattform noch im Konzeptstadium war, nicht? Sie oder jemand, der mitgehört hat, könnte über alles Bescheid wissen, was in Ihrer eigenen Praxis geschah, sie hat Sie ja auf dem Laufenden gehalten, über Ihre Patienten, ihre Sorgen, ihre Krankheit, ihr ganzes Leben. Sie wissen wahrscheinlich mehr über sie als jeder andere. So wie der, der die Academy in LifeBook installiert hat. Deswegen hat sie ja den Kopf dahinter auch zuerst unter ihren Patienten vermutet. Aber auf einen ist sie nicht gekommen – den Sohn ihres eigenen Psychiaters.«
»Was?«, Cassidy starrte Ella an. »Habe ich da gerade irgendwas verpasst? Oliver Gershenson ist Samson?«
»Erzählen Sie uns, was Kafka mit seiner Formulierung meinte, Professor«, sagte Ella.
»Ich weiß nicht«, sagte Gershenson leise, aber die Hand umklammerte den Revolver wieder fester, »ich weiß nicht, wie ich anfangen soll. Oliver … Oliver ist nicht mein leiblicher Sohn, müssen Sie wissen. Er ist siebzehn, aber in mancher Hinsicht ist er viel älter und in anderer viel jünger, fast noch ein Kind, allerdings ein Kind aus einer anderen Zeit und vielleicht aus einem anderen Universum.«
Er sah weder Ella noch Cassidy an, während er redete, nur die Mündung des Revolvers hielt beide in Schach. »Als seine Mutter … meine Schwester Rosalind … als Rosalind starb, blieb er allein mit seinem kranken Vater zurück. Sie war in einer geschlossenen Anstalt gestorben, unter nie ganz geklärten Umständen. Sie hatte versucht, ihren Mann – Olivers Vater, er hieß Anthony – umzubringen, mit Gift, allerdings war der Anschlag zunächst nicht tödlich. Sie wurde überführt, vor Gericht gestellt und zu lebenslanger Haft verurteilt. Ein Psychiater – ein renommierter Kollege – bescheinigte ihr mangelnde geistige Stabilität, deswegen kam Rosalind nicht ins Gefängnis. Das Gift entfaltete seine Wirkung allerdings erst im Lauf der Zeit. Es trieb Anthony in den Wahnsinn. Als er sich aufhängte, war Oliver neun. Nach dem Tod seines Vaters habe ich ihn zu mir genommen, weil er sonst in ein Heim gekommen wäre. Das Einzige, was er mitbrachte, war ein Computer. Keine Bücher, keine Schallplatten, geschweige denn Spielsachen. Anthony und Rosalind hatten eine IT-Firma, die sehr erfolgreich war. Sie steckten alles in die Firma, ihr Vermögen, ihre Zeit, ihr Genie – sie waren genial, o ja! –, und eine Zeitlang kamen sie der Sonne so nah, wie man ihr nur kommen konnte. Aber dann verbrannten sie. Ein paar vom Größenwahn diktierte, falsche Entscheidungen … Sie verloren alles, ihr Geld, ihr Haus, am Ende sogar
Weitere Kostenlose Bücher