Nukleus
ihren Verstand. Oliver hatten sie in dieser wilden, schnellen Zeit tatsächlich irgendwie vergessen. Der Junge wuchs praktisch unbeachtet auf, kein Kindergarten, keine Schule, die diesen Namen verdiente, keine Freunde. Oliver verbrachte sein ganzes junges Leben vor dem Computer, im Netz. Er war … er war wie ein Wolfskind, geboren und aufgezogen vom Internet.«
Der Professor schwieg, er schien in Gedanken verloren. »Mir kommen die Tränen«, kommentierte DI Cassidy. »Und da behaupten die Leute, Charles Dickens sei tot.«
»Seit wann wissen Sie es?«, fragte Ella. »Noch nicht lange, oder? Hat Annika Sie darauf gebracht?«
»Ihre E-Mails mit den Kliniken …«, erwiderte der Professor. »Plötzlich war Oliver so aufgeregt, wie ich ihn noch nie erlebt habe. Er wollte unbedingt wissen, was es damit auf sich hatte, ob das was mit Dr. Jansens Verschwinden zu tun hätte. Ich habe es ihm gesagt – warum auch nicht? –, aber plötzlich standen zwei Männer vom Secret Service vor der Tür – MI5 oder MI6, ich weiß es nicht genau. Sie ha ben etwas von nationaler Sicherheit gesagt und dass Dr. Jansen Oliver für immer ins Zuchthaus bringen könnte, wenn ich nicht kooperiere. Ich habe sie immer gemocht, wir waren mehr als Therapeut und Patientin, aber er ist doch mein Sohn. Fast. Danach habe ich mit ihm gesprochen und erfahren … erfahren …« Der Professor schien um Fassung zu ringen. »Er hatte unsere Gespräche abgehört, Dr. Jansens und meine, alle unsere Gespräche, und er hatte sich tatsächlich in mei nen Computer gehackt und in die von Dr. Jansen und anderen, ich habe ihn gar nicht mehr wiedererkannt und plötzlich … plötzlich … Ich habe versagt, großer Gott, ich habe es nicht gesehen … Ich habe genauso versagt wie seine Eltern. In letzter Zeit hat er sein Zimmer immer seltener verlassen, hat kaum noch was gegessen … er war unausgeglichen, reizbar, und einmal hat er mich sogar geschlagen … Trotzdem wollte er … wollte er, dass ich immer in der Wohnung war, er wollte nicht allein sein, als hätte er Angst davor, was dann über ihn kommen könnte … Aber was er getan hat … was er wirklich getan hat … ich kann es mir nicht erklären. Warum? Was hat ihn nur auf diese Idee gebracht?«
Oder wer?, dachte Ella.
Ein Summen drang aus Gershensons Manteltasche, und er holte sein Handy heraus, um sich zu melden. »Ja?« DI Cassidy sprang auf, aber der Professor hatte offenbar damit gerechnet, denn er riss den Arm mit dem Revolver hoch, richtete die Mündung auf Cassidys Gesicht und spannte den Hahn. »Gut«, sagte er ins Handy. »Bitte, geben Sie auf den Jungen acht.« Er lauschte. »Ja, mache ich. Schicken Sie jemand hierher?«
Sie sind drin, dachte Ella, sie rufen an, um ihm zu sagen, dass sie Anni gefunden haben! Und Cassidy schien dasselbe zu denken, denn er blieb nicht stehen, wie der Professor vielleicht erwartet hatte, sondern ging mit großen Schritten auf ihn zu.
»Halt, bleiben Sie stehen! Kommen Sie nicht näher!«, rief Gershenson, aber Cassidy ging weiter, bis er nur noch Zentimeter von Gershenson entfernt war und mit seiner Stirn die Mündung des Revolvers berührte. Dann sagte er: »Na los, drücken Sie ab! Zeigen Sie uns, was ein richtiger Seelenklempner ist! Schießen Sie!«
Gershenson starrte ihn fassungslos an, den Revolver gegen Cassidys Stirn gepresst, das wieder ausgeschaltete Handy in der anderen Hand, Panik in den Augen, erst Panik, dann Aufbegehren und schließlich Resignation, als Cassidy sagte: »Schießen Sie doch! Warum schießen Sie nicht?«, und die Faust mit dem Revolver zu zittern begann, die Mündung immer noch auf Cassidys geröteter, schweißglänzender Stirn, direkt über der Nasenwurzel und den durchdringenden, wutglitzernden Huskyaugen, Cassidy, der sagte: »Oder wollen Sie, dass ich mich selbst umbringe, weil ich mein beschissenes Leben nicht mehr ertrage? Wollen Sie das vielleicht? Aber wissen Sie, was? Es fängt gerade an, mir wieder Spaß zu machen.«
Er hob beide Hände, als wollte er Sirtaki tanzen, zu einer Musik, die nur er hörte. Dann versetzte er Gershenson mit der einen Hand eine Ohrfeige, während er ihm mit der anderen die Waffe abnahm, gerader als die Gondel den tiefsten Punkt erreichte und die Tür sich öffnete.
5 7
Unter dem Nebel glänzte das Wasser silbern im Mondschein. Kleine Wellen leckten an den Brückenpfeilern. Trotz des Windes war der Geruch nach Tang, Brackwasser und toten Fischen hier unter der Brücke fast unerträglich. Die
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