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Nukleus

Nukleus

Titel: Nukleus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claus Cornelius Fischer
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Luft schmeckte nach Salz.
    »Steigen Sie ein«, sagte Cassidy und versetzte dem Professor einen Stoß. Der Mann mit dem tätowierten Hakenkreuz im Nacken sah mit ausdruckloser Miene zu, wie Gershenson ungeschickt erst auf eine kurze Holzleiter an der Bordwand und dann über die Reling des schwankenden Boots kletterte.
    »Jetzt Sie.« Der Detective Inspector hielt Ellas Arm, während sie dem Professor folgte. Der Mann neben dem Motorboot wartete, bis alle drei an Bord waren. Dann zerrte er den Anker, der zwischen zwei großen Steinbrocken festgeklemmt war, hervor und wuchtete ihn ins Heck, bevor er selbst über die Bordwand kletterte und auf dem Sitz hinter dem Steuerrad Platz nahm. Langsam trieb das Boot flussabwärts. Der Mann drückte einige Knöpfe am Armaturenbrett und legte einen Schalter um, dann betätigte er die Zündung.
    Hustend und spuckend sprang der Motor an. Er heulte auf, und ein Zittern durchlief das Boot. Eine Dieselwolke stieg hinter dem Heck auf, als der Mann mit dem Hakenkreuz im Nacken das Boot unter der Brücke wendete und flussaufwärts lenkte. Die Schraube schleuderte Schaum an die Wasseroberfläche. Zwischen den Brückenpfeilern war der Lärm ohrenbetäubend, aber dahinter verlor er sich über dem Wasser und vermischte sich mit dem Klatschen der Wellen gegen den Rumpf. Jede Welle versetzte dem Boot einen Schlag, und die Schläge folgten einander immer härter und schneller. Im Licht des Scheinwerfers auf dem Kabinendach flog die Wasseroberfläche dem Bug entgegen.
    DI Cassidy versuchte, in der Klinik anzurufen. Eine kleine Ewigkeit lang presste er das Handy ans Ohr, bevor er es mit einem scharfen Kopfschütteln wieder sinken ließ. » Vorübergehend nicht erreichbar … immer noch«, rief er Ella zu.
    Ella starrte auf den Fluss und hatte plötzlich das Gefühl, von einem Strudel erfasst zu werden, der sie unaufhaltsam in die Tiefe zog. Was bedeutet das?, dachte sie. Wieso ist nicht wenigstens die Notaufnahme besetzt? Der Wind wehte scharf und kalt über den offenen Fluss und verschlug ihr immer wieder den Atem. Sie fror in ihrer dünnen Jacke. Sie setzte sich neben den Professor auf die kleine Bank im Heck.
    Sie dachte: Wir wissen noch nicht alles. Es kann noch nicht alles sein. Er hat versucht, seinen Ziehsohn zu schützen, aber ist Oliver wirklich der, den wir gesucht haben? Ich kann mir nicht vorstellen, dass ein Siebzehnjähriger zu so etwas fähig ist, geistig, seelisch. Das Programm schreiben, ja, das kann so einer, aber die seelenlose Manipulation von verzweifelten Menschen – wie sollte er dazu in der Lage sein?
    Im Sitzen kam ihr das Schlagen des Bootes auf das Wasser noch härter vor. Cassidy stand neben dem Mann mit dem Hakenkreuz, und nur sein leicht gekrümmter Rücken verriet seine Anspannung. Seine Hand mit dem Mobiltelefon ruhte auf einem Rettungsring, der vor ihm an der rostigen Metallwand hing.
    Die Männer vom MI6 haben Anni gefunden, dachte Ella; sie haben sie gefunden und werden sie töten, und wir kommen zu spät.
    Linkerhand blieb das London Eye hinter ihnen zurück, ein glühendes Pfauenrad vor dem bewölkten Nachthimmel. Am anderen Ufer glitt Westminster Palace vorbei, der Turm, die Abtei. Ella dachte: Wir kommen zu spät, sie haben zwanzig Minuten Vorsprung, aber vielleicht bringen sie Anni nicht sofort um.
    Zu beiden Seiten des Flusses lagen massive Gebäude in der Dunkelheit, wo die Lampen der Promenade nicht hinreichten. Etwas später, nach der übernächsten Brücke, folgten Lagerhallen und die unerlässlichen Kräne, an deren Auslegern kleine Positionslampen glommen. Platanen wogten im Wind, noch eine Brücke, unter der ein tiefliegen der Lastkahn an ihnen vorbeituckerte. Das Boot ritt über die verdrängten Wellen, die der Kahn ihnen zuschob. Rechterhand zeichneten sich die mächtigen Schlote eines Kraftwerks ab, dann weitere Kräne, von denen einige noch in Betrieb waren, und hinter der nächsten Biegung eine Werft und auch hier Schornsteine, diesmal welche, aus denen Feuerbündel in den schwarzen Himmel züngelten, als gehörten sie zur Klimaanlage der Hölle.
    Vielleicht bringen sie Anni nicht sofort um, weil sie sie erst noch verhören, hoffte Ella; sie müssen wissen, mit wem sie alles geredet hat.
    Sie wünschte, das Boot wäre schneller. Sie rief: »Ist es noch weit?«, aber Gershenson antwortete nicht. Zusammengesunken kauerte er neben ihr und hielt sich mit einer Hand an der Reling fest. »Ist Oliver bei den Agenten vom MI6?«, fragte sie. »Haben die

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