Nukleus
der Oliver, der versucht, Menschen dazu zu bringen, dass sie sich umbringen und dabei noch andere Menschen töten. Der das Internet benutzt, um dem Bösen auf die Welt zu helfen, ihm ein Zuhause in der Zukunft zu schaffen. Und gleichzeitig bist du der kleine Junge, der nicht mehr allein sein wollte, selbst um den Preis, dass sein Gefährte ein grausames, schreckliches Tier im finsteren Wald ist. Der Junge, der als Kind im Netz verloren gegangen ist und dort die Sterne suchte, die er am Himmel gesehen hat, wenn er nachts nicht mehr weiterwusste. So wie wir alle nachts nach oben schauen, wenn wir allein und einsam sind. Der Junge, der stundenlang vor dem Riesenrad stehen konnte und in den Gondeln die Sterne gesehen hat, die um die Radnabe wie um das Licht kreisen. Aber im selben Moment bist du auch wieder der andere in dir, der aus sich einen Mittelpunkt der Schwärze gemacht hat, eine Sonne des Todes, um den Mörder kreisen, Mörder und Selbstmörder, denen er die Namen von Sternen gegeben hat.« Sie sah ihn an. »Soll ich weiterreden?«
Der Junge hing mit seinen großen, dunklen Augen an ihr, öffnete kurz den Mund und schloss ihn wieder, ohne etwas zu sagen. Die Röte war aus seinen Wagen gewichen; er versuchte ein trotziges Schulterzucken.
Annika sagte: »Du bist nicht hier, weil du willst, dass du und ich, dass wir beide im Tod eins werden, sondern weil du selbst wieder eins mit dir werden möchtest. Der Junge vor dem Riesenrad will nicht sterben. Der weiß nämlich, dass Leben viel cooler ist als Totsein. Er will nicht sterben, und er will auch niemanden umbringen. Und vielleicht weiß er sogar, dass die beiden Männer in Berlin und der Verrückte hier in London mit der Babynahrung ihre Taten nicht seinetwegen begangen haben, dass es gar nicht seine Schuld ist, sondern die des anderen. Des Gefährten aus dem Wald. Dieser Junge weiß, dass das menschliche Gehirn mehr Zellen hat als unsere Galaxie Sterne. Kein Tier hat so ein Gehirn! Ein Tier kann nicht mal Fußball spielen. Ein Tier kann nicht lesen und hören, was die Bücher erzählen, wie sie mit einem reden. Ein Tier, das immer allein war, will wegrennen, wenn ihm Freundlichkeit begegnet. Es beißt, wenn man die Hand nach ihm aus streckt. Ein Tier ist trostlos. Das weiß dieser Junge. Dieser Junge würde sich, glaube ich, gern mit anderen Jungs treffen, einfach zum Abhängen, zum Fußballspielen oder zum Skaten an der Themse. Er würde gern mit ihnen einen Burger essen, eine Limo trinken und Mädchen hinterherkucken. Oder im Park rumlungern und Schwäne ärgern und nachts um die Wette pinkeln, wer es am weitesten schafft. Er würde gern in die Schule gehen, einfach nur, um sie zu schwänzen und sich stattdessen ins Kino zu mogeln, ohne zu bezahlen. Mit seiner ersten Freundin in der letzten Reihe rumknutschen. Oder Gitarre lernen und in einer Band spielen und mit ihr groß rauskommen …«
»Hör auf!«, schrie Oliver. »Du machst dich über mich lustig! Ich mag das nicht, ich mag das nicht …«
»Nein«, Annikas Stimme wurde eindringlicher, aber nur eine Spur, »ich mache mich nicht über dich lustig. Ich weiß doch noch von früher, wie sich das anfühlt, wenn man alles will, aber gleichzeitig auch Angst davor hat, weil es neu und unbekannt ist. Ich weiß noch, wie das ist – immer mehr zu wollen, sich das ganz große Abenteuer vorzustellen, Filmszenen in Cinemascope, wie man in einem knallroten Rennwagen die Formel 1 gewinnt oder auf Wasserskiern über einen Postkartensee schäumt, dem Sonnenuntergang entgegen, oder mit einem Gleitschirm durch die Luft schwebt, so ruhig, dass jeder Adler vor Neid erblasst, und du hörst nichts als das Rauschen des Windes über dem leeren blauen Horizont und weißt, dass du nie alt werden wirst, ohne wirklich geliebt zu haben und geliebt zu werden, etwas abzukriegen von der allgegenwärtigen Liebe, die es auf der Welt gibt, und ich weiß, dass du das auch wissen willst. Aber der andere in dir schürt die Angst, damit du all das nicht willst, vor allem eins nicht – ein Mädchen lieben, mit ihm Eis essen oder im Gras liegen, das nach Sommer und Sonne riecht. Er will nicht, dass du dieses Mädchen liebst und eines Tages vielleicht sogar heiratest und womöglich Kinder bekommst, an denen du alles gutmachen kannst, was andere bei dir falsch gemacht haben. Dass du Kinder bekommst, obwohl er keine haben kann. Nein, du sollst Angst haben und weiter Angst verbreiten, damit du sein Sohn wirst, wie du Professor Gershensons Sohn
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