Nukleus
Tüchlein darunter, bis die Blutung stand. Der Einschnitt gab den Blick auf Annikas Nackenmuskulatur frei, die rot und faserig im Licht der OP-Lampe glänzte.
Mit einem anderen Messer durchtrennte Julian die schmalen Stränge von oben nach unten, löste sie vom Knochen und schob sie nach rechts und links beiseite, wo er sie mit Retraktoren befestigte. Als er fertig war, reichte Ella ihm den Kauter, dessen Enden aus isolierten Elektroden bestand. »Strom!«, befahl er, und immer wenn er mit den Elektroden ein offenes Blutgefäß zusammenpresste und mit Hochfrequenzstrom verkochte, gab es ein leises Zischen.
Unter den Muskeln waren die oberen Halswirbelbögen zum Vorschein gekommen, oval, weiß und glatt. Links davon, dicht neben dem Einschlagloch, pulsierte die Wirbelschlagader.
Ella starrte auf Julians Hände in der grünen Gummihülle. Sie zitterten tatsächlich, ein leises, kaum merkliches Vibrieren. Schweiß trat ihr auf die Stirn, juckte unter der Papierhaube und auf der Kopfhaut. Sie dachte: In diesen Händen liegt Annikas Leben. Er hält ihr Leben in den Händen, und sie zittern. Es ist ihr Herz, das ich überall um mich herum schlagen höre, aus den Lautsprechern der Monitore. Aber seine Hände zittern.
Sie sah auf und begegnete Julians Blick. »Was hast du?«, fragte sie.
»Nichts.« Er blinzelte und legte den Kauter mit einem leichten Klirren auf den Instrumententisch. »Ich möchte nur einen Schluck Wasser trinken.« Er drehte sich zu Dr. Fleming um. »Bei Ihnen alles in Ordnung, Doktor?« Der Anästhesist hob die Augen kurz von den in der Dunkelheit leuchtenden Instrumenten und nickte. Julian fragte: »Können Sie die Entfernung der Wirbelbögen übernehmen?«
»Kein Problem«, antwortete Fleming.
Ella dachte: Das darf er doch gar nicht. Er muss an seinem Kontrollpult bleiben. Was passiert hier gerade?
Julian steuerte den Vorbereitungsraum an und zerrte sich die Maske vom Gesicht, atmete mehrmals tief ein und wieder aus. Er beugte sich über das Waschbecken, um zu trinken.
Er hat noch nie bei einer Operation gezittert, dachte Ella, weder davor noch danach und schon gar nicht währenddessen. Durch das Fenster konnte sie sehen, wie DI Cassidy den nicht sterilen Bereich des Raums betrat und sich neben der Tür an die Wand lehnte. Was hatte der gottverdammte Detective Inpector im Vorbereitungsraum zu suchen? Dann dachte sie: Nutz die Pause, um Abdallah anzurufen, vielleicht ist es noch nicht zu spät!
»Ich bin gleich wieder da«, sagte sie und ging ebenfalls in den Vorbereitungsraum. Als sie durch die Schwingtür trat, unterbrach Cassidy sich mitten im Satz, nickte ihr zu und verließ den Raum. Sie stellte fest, dass der Monitor im Vorbereitungsraum eingeschaltet war und Annikas freigelegten Schädel zeigte.
»Was hast du?«, fragte sie Julian noch einmal. »Deine Hände zittern.«
Julian sah sie nicht an. »Es ist nichts. Ein Krampf. Mach dir keine Sorgen, gleich geht’s weiter.« Er hielt seine Hände unter das lauwarme Wasser, und Ella hatte das beunruhigende Gefühl, dass er auch das tat, um sie nicht ansehen zu müssen.
»Julian, stimmt etwas nicht?«
»Was soll denn nicht stimmen«, antwortete er, und sie konnte erkennen, dass er log. »Außer dass ich zu operieren versuche und anfange zu bereuen, dass ich dir erlaubt habe, dabei zu sein.«
Sie kannte ihn gut genug, um zu wissen, dass es keinen Sinn hatte, weiter nachzufragen. Sie zog Handschuhe, Kittel und Mundschutz aus und verließ den OP. Draußen traf sie auf Polizisten, die sie mit misstrauischen Augen empfingen und ihr mit Blicken folgten, als sie sich nach links wandte, um irgendwo ungestört telefonieren zu können. Nach ein paar Schritten begegnete sie dem Arzt, der ihr sein Smartphone geliehen hatte. »Ah, da sind Sie ja«, sagte er, »ich habe Sie schon gesucht, ich brauche mein …«
»Gleich«, sie holte das Smartphone aus der Kitteltasche, »nur noch ein Anruf, bitte! Es geht um Leben und Tod, wirklich!«
Er hob die Hände, resigniert und beschwichtigend zugleich, während sie schon Abdallahs Nummer wählte. Wieder erreichte sie ihn nicht sofort, wieder wurde sie laut, bis er in die Leitung kam. »Hören Sie zu«, sagte sie. »Ich habe nicht viel Zeit, aber mir ist eine Idee gekommen, wie Sie …«
»Jetzt hören Sie mir mal zu«, sagte Abdallah gereizt. »Wir haben hier eine Krisensituation und einen Krisenstab, der mit dieser Situation umgehen soll, und dazu gehören mein Vorgesetzter in der Abteilung Delikte gegen
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