Nukleus
dem zweiten Bett, über dem keine Lampe brannte, lag ein Junge in Jeans, Turnschuhen und Kapuzensweater und schlief auch. Der Junge war älter und größer als Shirin, und er durfte gar nicht hier sein, denn er war kein Patient. Yassim hatte sich hereingeschlichen, weil er bei Shirin sein wollte. Er hatte Halil gesagt, dass er sie heiraten wollte, wenn ihr Vater, der Präsident der Abou-Khans, es ihm erlaubte. Er übernahm schon jetzt Verantwortung, dachte Halil.
Shirins Gesicht zeigte diesen friedlichen, versonnenen Ausdruck, seit sie aus dem Koma erwacht war. Sie lächelte, seit sie ihren Vater zum ersten Mal an ihrem Bett gesehen hatte. Aber das Glück in ihren Augen war erst da, seit Yassim sie besuchte. Deswegen duldete Halil seine Anwesenheit auch außerhalb der Besuchszeit, solange sie sich nicht berührten.
Auch der Junge wusste nicht, dass jemand in dieser Nacht versuchte, sie alle zu vergiften. Halil war zornig, aber er war auch froh, dass er und Shirins Geschwister und ihre Onkel und Tanten an diesem Abend länger bei ihr geblieben waren, weil sie heute Geburtstag hatte. Sie waren gerade im Begriff gewesen, aufzubrechen, hatten die Klinik schon fast verlassen, als sie feststellten, dass auf den Gängen eine ungewöhnliche Unruhe herrschte.
Dann, im Foyer, wurden sie von einem Arzt darüber informiert, dass die Türen abgesperrt waren und niemand das Krankenhaus verlassen durfte. Halil hatte versucht, jemanden anzurufen, der ihn herausholen konnte, er kannte mächtige Anwälte, aber er musste erfahren, dass auch niemand hereinkam, nicht einmal ein mächtiger Anwalt. Und während er, Shirins Mutter, ihre Schwester Nerin, ihre Onkel Murat und Erol, ihr Patenonkel Rashid, ihre Brüder Amal, Mehmet und Arcif noch überlegt hatten, was das zu bedeuten haben mochte, war der Anruf von Dr. Bach, der Ärztin, gekommen.
Und jetzt war Präsident Halil zornig. Ich bin kein schlechter Mensch, dachte er. Ich habe viele Dinge getan, die ich tun musste, um meine Familie zu schützen, aber ich habe noch mehr Dinge nicht getan, Dinge, von denen die Polizei behauptet, ich hätte sie getan. Nein, ich bin kein schlechter Mensch. Warum also schickt mir Allah diese Prüfung? Warum will Allah mir meine Shirin zum zweiten Mal nehmen, wo sie doch nun wirklich unschuldig ist? Sie hat ein bisschen gebettelt und gestohlen, aber das ist doch kein Verbrechen. Ja, es gibt Familien, die mit Drogen und Waffen handeln, die Schutzgeld erpressen und Mädchen auf die Straße schicken, aber die Familie von Präsident Abou-Khan ist keine von diesen Familien. Meine Familie arbeitet hart im Wäschereigeschäft und im Diskothekengeschäft und im Immobiliengeschäft, und manchmal zahle ich, Präsident Abou-Khan, sogar Steuern, zusätzlich zum regelmäßigen Bakschisch für Beamte und Polizisten.
Er wusste, nach wem er Ausschau halten sollte, genau wie seine Söhne, Brüder und Cousins und ihre Frauen, Schwestern, Töchter und Mütter. Sie saßen auf Stühlen in den Wartezimmern, auf den Bänken in den Gängen, auf den Stufen der Treppen, obwohl es schon so spät war. Sie wechselten sich ab, arbeiteten in Schichten. Einige patrouillierten in den Gängen, andere fuhren mit den Fahrstühlen auf und ab. Sie fielen nicht auf; sie lärmten, aßen mitgebrachte Speisen, beschimpften das Personal, taten, was sie immer taten, wenn sie einen Familienangehörigen im Krankenhaus besuchten.
Sie hatten den Mann, den sie suchen sollten, nie von Angesicht zu Angesicht gesehen. Man hatte Präsident Halil ein Bild auf sein Handy geschickt, das von einer LifeBook-Seite stammte, jemand von der Polizei hatte das getan, aber das Bild brauchte er gar nicht, denn der Verbrecher saß irgendwo hier im Krankenhaus, tief unten, hinter Stahltüren, und sendete live ins Netz. Ein Mann ohne Gewissen und ohne Scham, ein böser Mann, der den Tod verdiente.
Halil Abou-Khan schloss leise die Tür von Shirins Zimmer. Nerin und Amal saßen auf dem Gang vor dem Zimmer und hielten Wache, und sie vertrugen sich sogar; das war ein Wunder. Er holte sein Handy heraus und rief seine anderen Söhne an – Mein Reichtum! –, und er rief Rashid und Shirins Onkel an und fragte: »Was habt ihr gesehen?«
»Nichts«, lauteten die Antworten, und Halil beschwor sie noch einmal: »Wir müssen wachsam sein. Wir müssen ihn finden oder versuchen, ihn aus seinem Loch zu locken, wenn er sich irgendwo versteckt. Und wir müssen alle Verstecke der Kameras und der Giftbehälter finden, damit wir sie
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