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Nukleus

Nukleus

Titel: Nukleus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claus Cornelius Fischer
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der Junge zerknirscht, »jetzt habe ich ihn auch gesehen. Aber er war verkleidet, ich habe ihn eben erst in dem Film erkannt.«
    Halil war außer sich vor Zorn. »Wenn wir alle sterben, wird Allah dich dafür bestrafen. Es gibt kein Paradies für dich!«
    »Aber auch sie werden nicht überleben«, redete der Mann im Internet weiter, »denn ich werde trotzdem handeln, selbst wenn der Anruf nicht kommt. Ich werde handeln, indem ich nichts tue. Ich werde sie ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen lassen, indem ich mich ihnen zeige und sage: Seht her, hier bin ich, aber ich bin nur einer. Wenn mich jemand anfasst, drücke ich auf die Fernbedienung. Und wenn sie mich nicht anfassen, werden sie doch die Bomben entschärfen wollen. Dann gehen auch alle los, selbst wenn sie nur einen Behälter … selbst wenn sie nur eine …«
    Er rieb sich die Augen, die Stirn. Er blinzelte. Er wird müde, dachte Halil. »Er wird wiederkommen, und dann halte die Augen offen«, sagte der Präsident zu seinem Neffen.
    Und der Mann auf dem Handy sagte: »… dann wird er mir endlich sein Gesicht zeigen. Sein Wesen. Und ich bin . Bitte! Schreibt mir!«

6 6
    Julian schob die Ellbogen auf die Armstützen in Annikas Nacken und presste die Augen an den Binokulartubus des OP-Mikroskops. Er drückte auf einen der Kontrollknöpfe. Mit einem leisen Surren fuhr das Objektiv ein Stück in den Schädel der Patientin hinunter. Ella blickte durch das Zusatzokular. Das Bild des Gehirns war gestochen scharf und wirkte wie ein 3-D-Effekt in einem Film.
    »Licht aus!« Die OP-Lampe erlosch. Jetzt brannte nur noch der Punktstrahler des Mikroskops. Das Objektiv saugte Ella und Julian mit seiner zehnfachen Vergrößerung in das Zentrum des Kleinhirnbereichs, eine kraterübersäte Mondoberfläche aus kräftigen, streich holzdicken Adern, elfenbeinweißen Knochensplittern und grauer Ge hirnmasse.
    Vergiss nicht, wo du bist, dachte Ella , und vergiss nicht, dass ich zusehe. Ich will nicht an dir zweifeln, weil ich dich liebe. Aber im Augenblick weiß ich nicht, was hier vorgeht und wo du stehst, und deswegen rede ich so mit dir. Du bist links hinter dem Kleinhirn, und du stößt nach links vorn vor, wo sich die Blutung eingenistet hat, Zellen zerstört und auf den Hirnstamm drückt. Du bist links hinten, im Cerebellum, da musst du durch, und ich bilde mir nicht ein, dass du nicht weißt, was du tust, aber es ist meine beste Freundin, die du operierst, und ich möchte einfach nicht, dass sie stirbt.
    Julian befand sich genau über der Stelle, wo der Splitter eingedrungen war. Die winzigen Sickerblutungen wirkten in der Vergrößerung durch das OP-Mikroskop wie Überschwemmungen, alles glitzerte und leuchtete im Widerschein des Punktstrahlers. Hier musste Julian einen der Geschossbahn folgenden Kanal schaffen, um an das Hämatom heranzukommen. Ella hob die Augen vom Okular, denn sie wusste, was er jetzt brauchte. »Sauger und Pinzette.«
    Er nahm den Sauger in die linke Hand und in die rechte die Kniepinzette, zwischen deren Enden sich ein in Kochsalzlösung getauch tes Wattebäuschchen befand. Er begann die Eintrittsstelle des Splitters zu säubern, stillte winzige Blutungen, saugte Flüssigkeit ab. »Spatel.«
    Er wechselte die Pinzette in die linke Hand, ergriff den weichen Hirnspatel mit der anderen und führte beide in den Wundtrichter. Er presste seine Augen wieder an den Binokulartubus. Millimeter für Millimeter schob er den schmalen Spatel in die Halbkugel aus unzähligen blutigen, von Knochensplittern zerfetzten Windungen und Falten, erweiterte sanft den Zugang, vorsichtig, halbe Millimeter, Viertelmillimeter, Zehntelmillimeter.
    Das Zellgewebe spannte sich unter dem Druck, riss aber nicht. Der Herzschlag war gleichmäßig, etwas weniger als fünfundsiebzig in der Minute, ein hohles Doppelsignal, einmal kurz, einmal etwas länger. Der Respirator atmete ein und aus, ein und aus, das Volumen änderte sich nicht. Ellas Ohren nahmen das Pochen, die Pieptöne und das Zischen wahr, aber sie hörte nicht wirklich hin.
    Behutsam verbreiterte Julian den Wundkanal. Die Spatel, die er benutzte, waren aus Silber und besaßen mehrere Glieder, an deren Enden sich leicht gebogene Blätter befanden. Er drehte an einer Schraube, und die Glieder spreizten sich wie ein Regenschirm gegen das Cerebellum und schufen eine Art Tunnel, ohne dass etwas riss, brach oder zu bluten begann. Erst als sein Mundschutz sich blähte, merkte Ella, dass er den Atem angehalten hatte. »Ich

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