Nukleus
alles andere in den Hintergrund trat.
Er küsste sie wieder, dringlicher diesmal. Als ihre Münder sich berührten, knisterte Elektrizität, versetzte ihnen einen schwachen Schlag. Ein Geschmack, den sie nicht kannte, lag auf seinen Lippen, kupfern, bittersüß wie Äther. Sie spürte seine Hand in ihrem Nacken, die Fingerspitzen vergruben sich in ihr Haar.
Sie schloss die Lider, während ihre Fingerspitzen über seinen Rücken glitten, bis sie seine Hüften packte. Die Heftigkeit ihrer Gesten beschleunigte seinen Atem, und als er in sie eindrang, hatte sie das Gefühl, er wollte auch ihr Inneres sehen, suchend im Dunkel ihres Körpers. Sie wartete, bis er einen Rhythmus gefunden hatte, dem sie sich überlassen konnte. Sie stellte sich vor, es wären Wellen, große, salzige Wellen, die gegen sie anrannten, unter ihr hindurchrollten, über sie hinwegspülten. Die Wellen trugen sie hoch und ließen sie wieder hinabgleiten, eine stetige, langsam anwachsende Dünung, deren Gischt an ihr leckte, sie mit ihrer Feuchtigkeit benetzte. Sie hielt noch immer seine Hüften, zog ihn tiefer und tiefer in sich hinein.
Sie küsste ihn wieder, die ganze Zeit wollte sie seine Lippen, seine Zunge spüren. Er ließ ihren Nacken los und nahm ihr Gesicht in seine Hände, hielt beide Wangen. Sie schüttelte den Kopf, vergrub ihr Gesicht in seiner Schulterbeuge, erstickte ihr eigenes Stöhnen, biss ihn in den Hals. Dann sprengte er den Rhythmus mit wenigen, immer schne l leren, härteren Stößen. Sie hörte ihn flüstern: »Komm, komm, komm«, und dann kam er, und sie wünschte, es wäre jetzt, wie es nur einmal ganz am Anfang gewesen war, dass die Wellen zu Feuer wurden, und sie und er für Sekunden gleichzeitig in den Flammen starben.
Er blieb erschöpft auf ihr liegen, ein schweres, feuchtes Gewicht, das sie mit beiden Armen festhielt. Sie hörte ihn dicht an ihrem Ohr atmen und spürte seine Lippen, jetzt trocken, an ihrem Hals. Seine Wimpern streiften über ihre Haut, wenn er die Augen öffnete und wieder schloss. Sein Haar roch heute anders, fand sie – frisch und kühl, so wie sie sich den Geruch eines Gletschers vorstellte oder des Himmels über dem Polarkreis.
Auf einmal schlug ihr Herz schneller, fast ängstlich, als wüsste es bereits, das ihr noch etwas bevorstand. Julian lag noch immer aufihr, aber ein Zittern durchlief jetzt seine Schultern, und ein Geräusch, das sie nicht sofort einordnen konnte, schien in seinem Hals gefangen. »Was ist?«, fragte sie. »Was hast du?« Feuchtigkeit benetzte ihr Gesicht, ihre Wangen und seine, und als sie daran leckte, war es wirklich das Meer, denn es schmeckte salzig. »Weinst du?«
Er antwortete nicht, nur das Zittern wurde stärker. Er schnappte nach Luft. Jetzt konnte sie ganz deutlich sein Schluchzen hören. »Was ist los, Julian?«, fragte sie.
»Ich weiß nicht, wie ich es dir sagen soll«, antwortete er, aber in ihren Ohren klang es, als wüsste er es und wollte es nur nicht sagen.
Ella spürte, wie ein Zucken ihre Lippen erfasste, das sie nicht kontrollieren konnte. Plötzlich war der Zorn wieder da, als hätte er die ganze Zeit nur darauf gewartet, dass sie ihn brauchte. »Du weißt es nicht?«, wiederholte sie. »Du weißt doch sonst immer alles, oder nicht? Du weißt alles, und du kannst alles. Du kannst Menschen das Leben retten – meistens jedenfalls –, du kannst einen Hörsaal mit dreihundert Studenten so zur Minna machen, dass man ihre Magengeschwüre praktisch aufbrechen hört, und du kannst dich auf den Empfängen unserer Großsponsoren von englischen Butlern mit aufgespießten Käsestückchen füttern lassen. Aber du kannst mir nicht sagen, warum du heulend auf mir liegst, nachdem du deinen Samen in mir deponiert hast?«
»Ella, bitte …«
Sie setzte sich auf. »Du bist wie dein alter Prof: Wenn du etwas nicht aufbohren oder rausschneiden kannst, tust du, als ob es nicht da wäre. Seit einem Jahr schlafen wir miteinander, aber wenn wir uns in der Klinik begegnen, nickst du mir zu wie einer flüchtigen Bekannten. Du gehst in meiner Wohnung ein und aus, wie es dir passt, du fuhrwerkst in meinem Leben herum, und manchmal – ganz selten –, das gebe ich zu, sagst du sogar, dass du mich liebst. Aber du sagst es so, als wäre ich ein unartiges Kind, das man anders nicht ruhigstellen kann.«
»Ella, ich habe ein Verhältnis«, brach es unvermittelt aus ihm heraus.
Sie spürte, wie sich ihr Herz mit Eisblumen überzog, im Zeitraffer, erst das Herz, dann alles
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