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Nukleus

Nukleus

Titel: Nukleus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claus Cornelius Fischer
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und warf mit einem Ruck die blonden Haare nach hinten, fast wie ein scheuendes Pferd. Er hatte beide Hände in den Taschen seines zerknitterten Trenchcoats vergraben, als müsste er sie stillhalten. »Darf ich reinkommen?«
    Ella trat zur Seite. »Ich wollte gerade schlafen gehen«, sagte sie. Ohne die Hände aus den Taschen zu nehmen, ging er an ihr vorbei und weiter in die Wohnung. Er war umgeben von einer Duftwolke, ein herbsüßes Eau de Toilette, um den Krankenhausgeruch zu überlagern. Im Wohnzimmer drehte er sich um und fragte: »Darf ich kurz ablegen?« Ohne ihre Antwort abzuwarten, zog er den Mantel aus und warf ihn achtlos über einen der Rattanstühle. Das Licht aus dem Arbeitszimmer rief glänzende Reflexe auf dem haselnussbraunen Leder seiner hochglanzpolierten Halbschuhe hervor.
    »Es war ein schrecklicher Tag«, sagte er.
    Ella sagte nichts, dachte: Ja, und du hattest deinen Anteil daran.
    »Ich möchte dich um Entschuldigung bitten«, sagte er. »Ich weiß auch nicht, was in mich gefahren ist. Es tut mir leid. Ich hatte vier Operationen hintereinander und wollte gerade nach Hause gehen. Und da kommt dein Anruf, dass ich mir noch das Mädchen ansehen soll …«
    Er wirkte müde und doch angespannt. Von Nahem sah sie die Fältchen der Erschöpfung um seine Augen. Seine Stimme klang belegt. Ellas Wut war verflogen. Sie hätte am liebsten ihren Kopf an seine Brust gelegt oder sein Gesicht an ihren Hals gezogen, aber sie traute sich nicht, weil er ihr auf einmal wie ein völlig veränderter Mann vorkam. Einer, den sie nicht kannte.
    »Ich hatte auch einen harten Tag«, sagte sie tonlos.
    »Natürlich«, sagte er. »Ich habe Bilder vom Hermannplatz in den Nachrichten gesehen. Ziemlicher Menschenauflauf.«
    »Ja, schrecklich.« Ella holte tief Luft. »Jede Menge Schaulustige. Und sie haben alle dasselbe gesehen wie ich – sterbende, verstümmelte Menschen, zerfetzte Körper, und sie konnten nicht genug davon kriegen. Ich bin sicher, es ging ihnen allen nahe. Aber dann, wenn sie lang genug dagestanden und zugeschaut haben, weißt du, was sie dann denken? Ich habe Hunger. Was gibt’s heute Abend zu essen? Das denken sie. Und damit ist es vorbei für sie. Sie gehen nach Hause. Keiner von ihnen schreit in der Dunkelheit, keiner trauert um die Opfer oder das, was aus der Welt geworden ist, in der so etwas passieren kann! Es interessiert sie nicht mehr, und ein paar Tage später haben sie es dann vergessen. Die Toten werden beerdigt, die Überlebenden sind für immer gezeichnet, aber niemand leidet mit ihnen, und auch sie versuchen zu vergessen. Nichts ändert sich. Und wer vergießt dann noch eine einzige Träne darüber?«
    »Du, Ella«, sagte Julian mit einem schwachen, flüchtigen Lächeln.
    Scheiße, dachte Ella, wie soll man bei dem Lächeln nicht schwach werden. Sie spürte, wie ihr Nacken zu zittern begann, schloss die Augen und hob das Gesicht ein wenig. Er beugte sich rasch vor und küsste sie ungeschickt, wobei er sie an den Oberarmen hielt wie jemanden, den man schütteln will. Sie wollte seinen Kuss so nicht erwidern, aber sie wollte auch nicht, dass er sie losließ.
    »Warte«, sagte sie. Sie warf den Bademantel ab, hakte den BH auf, schlüpfte aus dem Höschen. Hastig begann sie, die Knöpfe an Julians Hemd zu öffnen, während er aus seinem Kaschmirsakko fuhr und es fallen ließ. Am Gürtel zog sie ihn durchs Wohnzimmer zum Schlafzimmer, das fast zur Gänze von einem niedrigen Rattanbett mit einer quadratischen Matratze eingenommen wurde.
    »Küss mich noch einmal«, sagte sie. »Aber richtig.« Ohne die Lippen voneinander zu lösen, sanken sie im Dunkeln auf das Bett, schoben die Decke beiseite, das Kissen. Die seidene Bettwäsche schimmerte im Widerschein des Monds, der die Schatten der schräg gestellten Jalousie über das Zimmer warf. Ella merkte, dass Julians Berührungen sich verändert hatten; seine Hände hinterließen andere Spuren auf ihrer Haut, fassten weniger fordernd zu.
    Wir sind heute beide verwundet worden, dachte sie; wir legen unsere Wunden aneinander, um sie zu heilen. Sie wollte ihm Trost geben, seinen Trost spüren, dazu Lust – sie hatte Sehnsucht nach Lust, danach, die Besinnung zu verlieren. Er kniete vor ihr, mit gespreizten Schenkeln, drückte sie auf den Rücken, kam über sie. Seine Augen glänzten, ganz nah jetzt, hielten ihren Blick fest. Während sie ihn ansah, schien sein Gesicht heller und größer zu werden, wie von einem fahlen Licht erleuchtet, um das herum

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