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Nukleus

Nukleus

Titel: Nukleus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claus Cornelius Fischer
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andere in ihr. »Ach so«, sagte sie schließlich, »das ist alles? Deswegen weinst du? So was passiert doch ständig. Männer lieben immer noch irgendwas anderes – ihre Väter, ihre Mütter, ihre Brüder, ihre Kumpels, ihre Autos oder ihren Fußballklub und manchmal eben auch eine andere Frau. Was ist so schlimm an der Wahrheit?«
    »Ella, bitte rede nicht so. Ich fühle mich beschissen, wirklich. Heute Abend habe ich beinahe ein Kind verloren, und jetzt ist mir …«
    »Ist das nicht eine tolle Fügung«, unterbrach Ella ihn bitter, »ein Mädchen fällt ins Koma, dafür erblickt eine Geliebte das Licht der Welt! Und der Mann, den ich liebe, fühlt sich entsetzlich.«
    Julian setzte sich auf die Bettkante und zog den Rotz hoch wie ein kleiner Junge. Zum ersten Mal nahm Ella die leise Musik wahr, die von irgendwo im Haus heraufdrang: das schwache Wummern von Bässen, eine Miles-Davis-Trompete, Bongos und Schlagzeug. Ihr war zum Heulen zumute. »Warum?«, fragte sie. »Julian, warum?«
    »Sie war da.« Die Antwort kam schnell, als hätte er sie sich schon vor langer Zeit zurechtgelegt.
    »Wann?«
    »Immer. Wenn ich sie brauchte.«
    »Und ich war nicht da.«
    »Oft«, sagte er, um einen besonnenen, fast freundlichen Ton bemüht. »Du bist so oft nicht da, Ella.«
    »Und wo bin ich?«
    »Du spielst den Superdoc. Rast durch die Straßen und rettest Leben oder was auch immer. Sam dagegen …«
    »Sam?«
    »Samantha.«
    »Ich will ihren Namen gar nicht wissen«, sagte Ella.
    Julian schwieg. Sie schwieg ebenfalls. Er seufzte und setzte sich auf. Einen Moment lang saß er noch auf der Bettkante, eine Silhouette vor dem Fenster, dann stand er auf. Das Parkett knarrte unter seinen Schritten, als er seine Kleider zusammensuchte. Sie hörte das Rascheln von Stoff, einen Reißverschluss, der mit zwei Rucken geschlossen wurde.
    »Warum sagst du nicht, dass es nichts Ernstes ist?«, fragte Ella. »Dass es nichts mit uns zu tun hat. Dass du sie nicht liebst, sondern mich.«
    »Ella, es ist nicht so einfach.« Er zögerte. »Ich weiß nicht, ob ich sie liebe«, sagte er in dem besonnenen, ernsten Ton, der sich in ihrem Bauch anfühlte, als bearbeite er ihren Magen mit einer Nagelfeile. »Vielleicht werde ich nie wieder jemanden lieben wie dich. Ich weiß nur, dass ich so nicht leben will.«
    Nicht mal das, dachte Ella traurig, es ist nicht mal Liebe. Das ist das Problem. Wenn du mich schon betrügst, dann sollte es wenigstens Liebe sein. Sie fühlte sich einsam und verwirrt. Obwohl sie zu Hause war, kam sie sich vor, als wäre sie gerade verloren gegangen.
    »Aber eins musst du mir glauben«, sagte Julian, jetzt schon im Hemd, das er gerade zuknöpfte, wie immer von oben nach unten, »immer wenn ich bei ihr bin, weiß ich erst, wie sehr ich dich liebe.«
    »Prima Rechtfertigung«, sagte sie. »Absolut einwandfrei. Gehst du jetzt zu ihr, um mich mehr zu lieben?« Sie versuchte ein Lachen, aber für das Ergebnis hätte man ein Weltraummikrofon der NASA gebraucht, um es als Lachen identifizieren zu können.
    »Seit wann bist du denn eifersüchtig?«, fragte er überrascht. »Das passt doch gar nicht zu dir.«
    »Ach, nein, wieso nicht?« Sie richtete sich auf, um ihn besser sehen zu können. »Ich dachte, wir lebten in derselben Welt.«
    »Das tun wir doch«, sagte Julian.
    »Nein, denn in der Welt, in der ich lebe, will ich alles klar und ehrlich«, sagte sie scharf und schwang die Beine aus dem Bett. »Ich hasse alle Halbheiten, die schiefen Situationen und ungeklärten Gefühle. Ich vergesse bloß manchmal, dass es da draußen noch eine andere Welt gibt, in der alles unscharf ist, in der gelogen und betrogen und manipuliert wird. Eine Welt, mit der ich nichts zu tun haben möchte, weil ich mir darin hilflos und mies vorkomme. Und ich will auch mit niemandem etwas zu tun haben, der sich darin bewegt.«
    »Ich verstehe«, sagte Julian.
    »Du kannst nicht in beiden Welten leben«, sagte Ella. »Nicht, wenn du mit mir zusammen sein möchtest. Du musst dich entscheiden.«
    »Ich habe mich ja entschieden«, sagte Julian.
    »Du gehst jetzt nicht zu dieser Frau?«
    »Nein.«
    »Versprochen?«, fragte sie mit einem spröden Riss in der Stimme.
    »Versprochen«, sagte er.
    »Ich glaube dir nicht.«
    Er schwieg wieder.
    Sie sagte: »Vorhin in der Klinik hast du gesagt, du müsstest allein sein, um nachzudenken. Dann stehst du auf einmal mitten in der Nacht bei mir vor der Tür, und nachdem wir Sex hatten, fängst du an, zu weinen und

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