Nukleus
Schuhe des Jungen gegen die Trommel schlagen, rumms, rumms, rumms, oder vielleicht ist es auch sein Kopf, rumms, rumms, rumms , und dann schäumt die scharfe Reinigungsflüssigkeit in seinen offenen Mund, verärzt die Schleimhäute, dringt in die Kehle, die Lunge, den Magen.«
Er hörte kurz auf zu kauen, ah, die Reinigungsflüssigkeit! »Sie läuft ihm in die Ohren, sickert durch die Poren seiner Haut, versengt seine Harnröhre und seinen Anus wie ein Lötkolben, und die ganze Zeit dreht er sich hin und her, rumms, rumms, rumm s, und noch bevor der Waschgang um ist, gibt es kein Fitzelchen Dreck mehr in seinem Körper, keinen Speichel, keine Magensäure, keinen Kot, keinen eigenen Geruch mehr, der sauberste Mensch der Welt, wenn es ans Schleudern geht, aber der Mann, der vor der Trommel steht, der seinen kleinen Sohn die Münzen einwerfen ließ, der ist der pure Dreck.«
Er sah an Ella vorbei zu Halil auf der Bank, sah ihn direkt an und wiederholte das Wort laut und deutlich: »Dreck ist er, sonst nichts!«
Shirins Vater hatte das Gesicht längst wieder aus den Händen erhoben; ein Muskel an seinem Hals zuckte, als würfe sich unter der faltigen Haut ein winziger Fisch hin und her. »Und du, Hassan Abdallah, bist du etwas anderes?«, rief er. »Bist du nicht auch Dreck?! Gibt es auf der Erde überhaupt irgendetwas, das kein Dreck ist? Alles ist Dreck und Wasser. Im Dreck wächst das Getreide und der Reis. Gold ist nichts als glitzernder Dreck. Was in den Handys macht, dass man telefonieren kann, findet man in der Erde. Und die Erde ist aus Dreck, und aus Dreck hat Allah den Propheten und alle anderen Menschen geformt. Wenn Sie einen Menschen Dreck nennen und ihn damit beleidigen wollen, dann ist es, als wollten Sie Allah beleidigen. Er hat Halil gemacht.«
»Aber damit, was Halil später aus sich selbst gemacht hat, hat er nichts mehr zu tun. Wenn du das behauptest, beleidigst du Allah!«
Ella wünschte, sie wäre weit weg, weit weg von diesem sonderbaren libanesischen Cop und weit weg von der ganze Familie Abou-Khan. »Ich muss jetzt los, mein Dienst beginnt in einer halben Stunde«, sagte sie daher zu Abdallah. »Danke für Ihren plastischen Vortrag. Jetzt weiß ich wenigstens, wovon ich in den nächsten Nächten träumen werde.« Sie griff in die Tasche ihrer Lederjacke, und während sie zu den Fahrstühlen ging, holte sie ihr Handy heraus.
Niemand hatte versucht, sie zu erreichen. Sie zögerte ein paar Sekunden, dann wählte sie die Nummer von Annis Londoner Wohnung. Das Freizeichen ertönte, einmal, zweimal, dreimal …
Ich habe mich von dir ferngehalten, um dich zu schützen. Es hat sich herausgestellt, dass ich niemanden schützen kann. Dich nicht. Mich nicht. Max nicht.
… viermal, fünfmal, sechsmal …
Ruf mich nicht an, hörst du?
… siebenmal, achtmal, neunmal. Plötzlich knackte es in der Leitung, und Annis Stimme erklang: »Hallo …«
»Anni!«, rief Ella. »Ich bin’s. Ich bin ja so froh, dass ich dich erreiche …«
»… this is Annika Jansen. I’m not at home right now but if you leave a message I’ll call you back as soon as possible. Here comes the beep! Hallo, hier ist Annika. Wenn ihr mir eine Nachricht hinterlasst, rufe ich euch zurück. Achtung, gleich piept’s.«
Der Signalton erklang, und nach einem kurzen, überraschten Zögern redete Ella weiter, vielleicht war Anni ja doch da und hörte mit. »Ich weiß, ich soll dich nicht anrufen, aber ich muss unbedingt mit dir reden. Wenn du das hörst, melde dich bei mir, bitte, egal wann. Es ist wichtig!«
Ein weiteres Knacken ertönte, aber das Band lief immer noch, es schaltete sich nicht ab. Ella unterbrach die Verbindung. Was soll das, Anni? Warum ist dein AB plötzlich wieder eingeschaltet, wenn du nicht mehr in London bist? Oder bist du zurück und hast ihn selbst wieder angestellt? Aber warum nimmst du dann nicht ab? Und wenn du nicht zurück bist, wenn du ihn nicht selbst eingeschaltet hast, wer war es dann? Wer hat ihn eingeschaltet und warum?
Ellas Lungen schienen sich zusammenzuziehen, enger zu werden, bis sie kaum noch Luft bekam.
Sie haben Zugriff auf jedes Wort, jedes Bild, jede Ziffer im Netz. Sie hören auch die Telefonate mit. Ruf mich nicht an! Hörst du? Ruf mich auf keinen Fall an!
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Im Torbogen vor dem Brunnenhof des Klinikums blieb Ella stehen, um die Patienten und Angestellten zu mustern, die an ihr vorbeigingen. Der Himmel war nicht mehr so blau, aber die Luft roch weiterhin frisch und herbstlich.
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