Nukleus
Das Laub der Bäume auf den Gehwegen war schwarz und nass, denn es hatte geregnet, allerdings nur kurz. Als sie merkte, was sie tat, dachte sie: Das ist aus dir geworden, du hast dich daran gewöhnt, hinter dich zu schauen, nach Verfolgern zu suchen, nach Menschen, die dich vielleicht töten wollen.
Ihr Handy klingelte um 16:23 Uhr, Anrufer unbekannt . Sie war auf dem Weg zur U-Bahn und blieb auf halber Treppe zum Bahnsteig stehen. Diesmal erkannte sie die Stimme sofort. »Sie müssen kommen«, schrie der Sanitäter am anderen Ende der Verbindung. »Sie müssen sofort kommen, bevor ich … bevor ich es tue!«
»Bevor Sie was tun? Wo sind Sie?«
»In meiner Wohnung.«
»Sind Sie allein?«, fragte Ella. Sie hielt sich das freie Ohr mit der Hand zu, denn die Gänge der Station hallten von der verrückten Musik eines Puszta-Trios aus Ziehharmonika, Gitarre und Bass wider.
»Ja. Ich bin allein. Ich brauche einen Arzt, bevor … bevor es zu spät ist!«
»Haben Sie Drogen genommen?«
»Ja, Crystal«, stieß er hervor, als hätte sie ihn auf eine Idee gebracht. »Ich habe Crystal geraucht, mein ganzer Körper brennt!«
»Geben Sie mir Ihre Adresse!« Ella suchte mit der freien Hand die Visitenkarte, die Oberkommissar Hagen ihr gestern gegeben hatte, ging dabei weiter die Treppe hinunter, bog um die Ecke zu den Gleisen.
»Die sind hier!«, schrie der Sanitäter. »Die wissen, dass ich allein bin … ich werde sterben!«
»Bleiben Sie ruhig«, rief Ella. Ein schneidender Luftzug fuhr ihr ins Haar, ließ ihre Augen tränen. Wo war die verdammte Karte? In der Jacke nicht, in der Hose auch nicht – natürlich, in der anderen Jacke – der von gestern, die zu Hause hing. »Rufen Sie die 112 an, die können Ihnen schnell jemanden …«
»Ich will niemand anderen. Ich will, dass Sie kommen!«
»Ich bin in der U-Bahn.« Sie lief die kurze Treppe neben der Rolltreppe hinunter und sah gerade noch, wie die U9 Richtung Rathaus Steglitz abfuhr. »Wohin soll ich kommen? Welche Straße, welche Hausnummer?«
»Boddinstraße, Nummer 77.«
»Wie heißen Sie?« Ella blieb auf dem Bahnsteig stehen. Auf dem Gegengleis fuhr der Zug Richtung Osloer Straße ein. Die Türen der Waggons öffneten sich, und zwei bewaffnete Bundespolizisten, die genauso aussahen wie die an der Eisenacher Straße, stiegen aus. Ella merkte, wie die Verbindung schlechter wurde. »Bei wem soll ich klingeln?«
»Kornack, 4. Stock. Oben links. Beeilen Sie sich. Bitte!« Das Rat tern des abfahrenden Zugs übertönte die verzweifelte Stimme in ihrem Handy, dann wurde sie wieder klar. Er schrie noch immer: »Bitte, beeilen Sie sich!«
»Ich brauche Ihre Telefonnummer. Geben Sie mir Ihre Nummer.« Sie sah, wie die Bundespolizisten zu ihr herüberstarrten. Sie hatte jetzt auch geschrien. Obwohl das Rattern der Räder so laut war, hörte sie, wie die Leitung stumm wurde. Hastig wählte sie die Nummer der Feuerwehr-Leitzentrale. »Ella Bach hier«, sagte sie, als am anderen Ende abgehoben wurde. »Könnten Sie bitte das LKA für mich anrufen, Oberkommissar Hagen, es ist dringend! Ich habe einen Notruf bekommen, vielleicht ein kurz bevorstehender Suizid. Schicken Sie einen Rettungswagen in die Boddinstraße!«
Die nächste U7 Richtung Rathaus Steglitz schoss aus dem Tunnel hervor und hielt. Ella stieg ein, gefolgt von den Polizisten.
»Hier hat niemand angerufen«, sagte der Disponent. »Ich kann keinen Rettungswagen losschicken, wenn niemand anruft.«
»Er hat mich direkt kontaktiert, auf dem Handy. Er will, dass ich zu ihm komme, aber es ist besser, wenn das jemand anderer macht. Ich glaube, er hat eine Überdosis Crystal Meth erwischt. Die Polizei interessiert sich auch für ihn.«
»Die Verbindung ist sehr schlecht«, sagte der Disponent. »Ich kann Sie kaum verstehen.«
»Ich bin in der U-Bahn, aber der Mann wird von der Polizei gesucht.«
»Es handelt sich also um einen Mann, den Sie kennen?«, fragte der Disponent ruhig, als wäre sie selbst der bevorstehende Suizid, den man in ein Gespräch verwickeln musste, bis der Notarzt da war.
»Ja, verdammt!« Ella gab sich Mühe, nicht zu schreien. »Die Adresse ist Boddinstraße 77.«
»Ich habe jetzt das LKA in der Leitung«, unterbrach der Disponent sie. »Ein Oberkommissar Hagen. Ich verbinde.«
»Frau Bach, Hagen hier«, meldete sich Abdallahs Kollege, seine Stimme klang beunruhigt. »Reden wir über den Sanitäter mit dem komischen Blick? Den Sie dabei beobachtet haben, wie er den Selbstmordattentäter
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