Nukleus
den Straßen, den Hass in manchen Vierteln, Wedding, Neukölln, Spandau. In einige Gegenden trauen sich deutsche Polizisten gar nicht mehr hin, nicht mal zu mehreren. Das eigentliche Gesetz verkörpern Leute wie Präsident Abou-Khan. Ihr Wort gilt, nicht das der deutschen Behörden. Die Kinder da haben auch ihre eigenen Vorbilder: Männer, die sich nehmen, was sie haben wollen, ohne dafür zu arbeiten. Männer, die für ihren Lebensstandard töten, weil sie einen größeren Flachbild fernseher haben wollen oder silberne Felgen für ihre Sportwagen oder um die nächste Mieterhöhung auszugleichen. Und – natürlich – Männer wie unseren Schmalspur-Bushido hier.«
Er nickte zu dem Mann in der magentaroten Fleece-Jacke hinüber, und jetzt wusste Ella, woher sie ihn kannte: von CD-Covern und aus Musiksendungen im Fernsehen – der Blutsbruder, der König aller Rapper, der es aus einer Kellerwohnung in Neukölln erst an die Spitze der Liste mit den meistgesuchten Kriminellen der Stadt und dann an die der Rap-Charts des Landes geschafft hatte.
»Bestimmt haben Sie den Film Der Pate gesehen?«, meinte Abdallah. »Johnny Fontana, der Sänger, der bei der Hochzeit von Don Corleones Tochter auftritt? Unser junger Freund Rashido hier ist der Johnny Fontana des Abou-Khan-Clans. Er macht die Familie gesell schaftsfähig, führt die Jungs in die Filmbrache ein, in die Gesellschaft der oberen Zehntausend, hilft ihnen, neue Geschäftsfelder aufzutun. So wie Frank Sinatra der Mafia in Amerika geholfen hat.«
Am Ende des Gangs hatten die Kinder eine junge Schwester eingekreist, trotz ihres Alters wirkten sie bedrohlich, und Ella konnte selbst auf diese Entfernung sehen, dass die Schwester nicht wusste, wie sie mit der Situation umgehen sollte. Zwei weitere Mitarbeiter der Klinik-Security tauchten auf und näherten sich der Gruppe. Ella blickte zu Halil hinüber, der vorgebeugt dasaß, zusammengesunken, das ver zweifelte Gesicht in den Händen vergraben; nur für einen kurzen Moment, in dem er sich unbeobachtet glaubte.
»In diesen Gegenden«, fuhr Abdallah fort, während seine Zähne das Kaugummi bearbeiteten, »in Neukölln, Wedding, Pankow, gibt es einen Bodensatz von …«
»Stopp«, sagte Ella und hob eine Hand, »stopp, hören Sie auf! Ich bin Internistin, ich habe bei einem Notarzteinsatz ein Mädchen gerettet, dessen Vater zufällig ein libanesischer Einwanderer ist, der vielleicht kriminelle Geschäfte betreibt, vielleicht aber auch nicht, aber das interessiert mich nicht. Es geht mich nichts an, nicht mal mehr der Zustand des Mädchens geht mich etwas an, ich bin nur hier, weil ich nach ihr …«
»Es geht Sie etwas an«, sagte Abdallah und hörte auf zu kauen. »Er hat Sie bedroht, oder nicht? Versuchen Sie sich nicht einzureden, dass er nur bellt, aber nicht beißt. Bei jemandem wie Halil fehlt immer nur so viel, dann wird er zum Täter und Sie werden zum Opfer. Ich habe Ihr Gespräch vorhin mitgehört.«
Er ließ die Worte einwirken, ehe er weiterredete. »Sie denken viel leicht, Halil ist ein alter Mann, ein rührender, besorgter Vater, der sein Töchterchen über alles liebt.« Er lachte kurz, so komisch war dieser Gedanke. »Tatsächlich sieht er aber seine Söhne als seinen eigentlichen Reichtum. Einmal hat er ein Mitglied einer rivalisierenden Familie, einen Mann, der einem seiner Söhne einen Fußknöchel mit einem Baseballschläger zertrümmert hat, in seiner eigenen Reinigung umgebracht. Hat ihn mit ein paar seiner Söhne besucht, ist mit ihm in die Reinigung gefahren und hat ihn da in eine von diesen riesigen Wäschetrommeln gesteckt. Sein Jüngster durfte ein paar Euros einwerfen, und er hat auf Vollwäsche gedrückt. Können Sie sich das vorstellen? Und jetzt sagen Sie mir eins: Warum haben Sie uns nicht mitgeteilt, dass er Sie bedroht hat?«
»Dazu hatte ich noch keine Zeit«, antwortete Ella und sah ihn nicht an.
»Haben Sie Angst?«, fragte Abdallah.
»Nein.« Ella schüttelte heftig den Kopf. »So schnell kann man mich nicht einschüchtern. Nicht nach dem, was ich im letzten Jahr erlebt habe. Unter anderem mit Kollegen von Ihnen.«
»Ach ja?« Abdallahs Zähne nahmen ihre Arbeit wieder auf, mit der Geschwindigkeit einer Nähmaschine in einer chinesischen Schneide rei. »Haben die auch vor den Augen ihrer Kinder Menschen in Wasch maschinen gesteckt und das 90-Grad-Komplettprogramm gedrückt? Schalten Sie doch mal einen Moment Ihre Fantasie ein und stellen Sie sich das Geräusch vor, wie die
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