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Nukleus

Nukleus

Titel: Nukleus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claus Cornelius Fischer
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die aus dem Fenster im siebten Stock gesprungen sind. Ich habe Frauen gesehen, die so brutal zusammengeschlagen worden waren, dass man ihre Schädel mit Nägeln und Sil berplatten restaurieren musste. Ich habe Kinder mit Stich- und Schuss wunden gesehen. Ich war bei Verkehrsunfällen, Zugunglücken, Bränden im Einsatz, und einmal habe ich eine junge Frau, die auf dem Wannsee beim Schlittschuhlaufen eingebrochen war, auf dem Bauch liegend aus dem eisigen Wasser gefischt. Ich habe Leuten das Leben gerettet, die es wahrscheinlich eher verdient hätten, zu sterben, und musste zusehen, wie Menschen starben, deren Leben noch nicht mal richtig angefangen hatte. Das ist die eine Seite.«
    »Und die andere?«, wollte Sascha wissen.
    »Die andere sind die Angehörigen, die Familien«, sagte Ella. »Die, die einen rufen. Wenn man ankommt, sind sie total in Panik, stehen einem im Weg herum und nerven mit tausend Fragen: Doktor, kommt er durch? Sie wird es doch schaffen? Wohin bringen Sie ihn? Machen Sie doch schnell! Können wir etwas tun? Können wir mitkommen – und, und, und. Aber kaum sind sie dann im Krankenhaus, haben sie einen vergessen, sie sehen einen gar nicht mehr, und wenn er es schafft – er oder sie –, wenn er wieder gesund wird, kommt keiner, der einem mal Blumen bringt oder einfach nur Danke sagt. Sie vergessen es, sie wollen nicht daran erinnert werden, an ihre Sterblichkeit. Und von den Patienten hört man auch nie mehr was. Aber das ist völlig okay, man möchte nämlich gar nicht wieder mit ihnen zu tun haben. Sonst würde man sehen, dass sie genauso weitermachen wie vorher, als wäre nichts gewesen. Die Einzigen, von denen man nochmal hört, sind die, die sich in einen verlieben, die gibt es tatsächlich. Sie sind selten, aber es gibt sie. Sie denken, du bist ein Engel oder so was, weil sie dir ihr Leben verdanken, und die wird man nie wieder los, wenn man ihnen nicht knallhart einen Tritt vors Schienbein verpasst.«
    Sie schwieg.
    Sascha sah sie bewundernd an: »Warum schreibst du so was nicht mal auf? Du solltest das auf deine LifeBook-Seite stellen.«
    »Du weißt, dass ich eine LifeBook-Seite habe?«
    »Ja, ich hab nachgeschaut. Mache ich immer, wenn mich jemand interessiert.«
    »Und was machst du sonst noch so?«
    Er ließ die Schultern kreisen, die Hände auf den Oberschenkeln, um den Nacken zu entspannen. »In meiner Freizeit? Technisches Zeug. Ich bastel gern so ’n bisschen rum.«
    »Modellflugzeuge? Flaschenschiffe? Bomben?«
    Sascha antwortete nicht. »Es geht weiter«, sagte er. Er packte das Lenkrad, schaltete auf der Mittelkonsole zwischen ihren Sitzen die Sirene wieder ein und gab Gas. Weiter vorn am Südstern hatten sich die Wagen in Bewegung gesetzt, die roten Bremslichter erloschen. Die Fahrzeuge direkt vor dem Sprinter wichen jetzt zur Seite aus, rechts ein Fiat und ein Saab Cabrio, links ein Toyota, aber ein Mercedes blockierte stur die Fahrbahn, und die Ampel weiter voraus sprang schon wieder um.
    »Fahr auf den Gehweg!« Ella hatte sich vorgebeugt und trat die Gummimatte, als würde sie Gas geben. »Wir nehmen die Straße da vorn rechts, die führt irgendwann zum Columbiadamm, auf dem kommen wir schneller zur Hermannstraße!«
    Sascha kurbelte das Lenkrad nach rechts, ein Stoß durchlief den RTW, die Bordsteinkante, noch ein Stoß, ein Fahrrad, das an einem Baum lehnt, dann waren sie auf dem Gehweg. Unter tief hängenden Ästen rollten sie bis fast zum Südstern vor. Passanten blieben stehen. Der Widerschein des Blaulichts huschte über die Hausfassaden, blitzte in Erdgeschossfenstern. Dann waren sie in der nächsten Straße. »Nächste Möglichkeit rechts abbiegen«, sagte die Frauenstimme im Navi.
    Der Sprinter sprang vom Gehweg, wieder ein Stoß, ein Schaukeln, Sascha drängte sich zwischen einen BMW und einen VW-Bus. Die tief stehende Sonne schien ihnen jetzt frontal ins Gesicht, und beinahe hätte Sascha den entgegenkommenden Porsche übersehen, bis der Fahrer die Lichthupe aufblitzen ließ.
    »Da vorn links!«, rief Ella. »In fünfzig Metern links abbiegen «, sagte das Navi, und Sascha bog links ab. Jetzt erstreckten sich zu beiden Seiten Friedhöfe hinter langen Backsteinmauern, hier und da ein schmiedeeisernes Tor, eine Allee, gesäumt von Grabsteinen im letzten Tages licht. Ella dachte an Max, aber nur kurz. Sie hatten freie Fahrt auf dem nassen Laub, bis am Ende der Straße der Flugplatz Tempelhof auftauchte. Seit dem Anruf des Sanitäters war jetzt fast eine Stunde

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