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Nukleus

Nukleus

Titel: Nukleus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claus Cornelius Fischer
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vergangen.
    Der Columbiadamm war eine Rennstrecke, Sascha legte noch ein bisschen Tempo drauf. Die dicht stehenden Bogenlampen ratterten vorbei; der nächste Friedhof, diesmal mit einer Moschee, schlanke graue Türme, die in den Abendhimmel ragten. Auf der Kuppel glomm ein vergoldeter Sichelmond. Hinter dem Sommerbad Neukölln wurde der Verkehr wieder dichter, und an der Ecke Hermannstraße landeten sie mitten im Gewühl des Feierabendverkehrs.
    »Rechts oder links?«, wollte Sascha wissen.
    »Rechts, bis zur U-Bahn-Station Boddinstraße, dann links. Und versuch’s mal mit der Bremse.«
    Auf den Bürgersteigen schlenderten Menschen in Gruppen – Araber, Türken, Afrikaner, Roma, junge Mütter mit Kinderwagen, junge Männer mit Hunden. Die meisten Frauern trugen Kopftücher, ein paar noch Schleier und Burka. Jedes zweite Geschäft hatte einen arabischen Namen; fremde Nationalfarben hingen in den Fenstern. Hinter Schaufenstern mit aufgeklebten roten Prozent-Zeichen stapelte sich Ramsch in nackten Verkaufsräumen, in denen Kunden und Ver käufer gleich missmutig wirkten. Trübe erleuchtete Billigläden – Handys, Computer, Videos, Schuhe – wechselten sich mit fahlen Internet-Cafés und neonbunten Spielhallen ab. Vor den Türen von Dönerbuden und Sportbars saßen graubärtige alte Männer mit Schirmkappen und Gebetsketten. An den Rollberg-Kinos bildeten Mädchen und Jungen lärmende Trauben.
    Auf Höhe der U-Bahn-Insel setzte Sascha den Blinker und zog den Sprinter knapp vor einem Bus der Linie 104 nach links in die Boddinstraße. Die Räder ratterten über Kopfsteinpflaster abwärts, vorbei an einem kleinen Platz mit großen, alten Kastanien und einer Spielfläche, und weiter die immer engere Straße hinunter, während Ella sich vorbeugte, um die Hausnummern erkennen zu können.
    Sascha schaltete die Sirene aus. Erst hörte Ella gar nichts, dann alles auf einmal, die Reifen auf den Pflastersteinen, das Bellen eines Hundes, laute Musik aus einem offenen Fenster – ein Rapper und eine Sängerin. Das blaue Flackern machte Schnappschüsse: fleckige Alt baufassaden mit abbröckelndem Putz, schräg in den Angeln hängende Türen, mit Brettern zugenagelte Fenster. Von Rost zerfressene Autos am Straßenrand. An einer Mauer ein riesiges Graffito, eine Horrorfratze in grellen Farben, rot, blau, gelb, Feuer in den Augen, blutige, spitze Zähne im weit aufgerissenen Maul. Auf dem Gehweg Mülltüten, aufgeplatzte Matratzen neben anderem Sperrmüll. Ein schlafender Punker in einem Hauseingang. Ein Mann, der seine verschleierte Frau vor sich her trieb – »Jella! Jella!« –, beide beladen mit überquellenden Pappkartons vom Basar an der Mainzer Straße.
    »Ich liebe Neukölln«, murmelte Sascha.
    »Da vorn muss es sein«, sagte Ella. Zwei Häuser vor Nummer 77 unter den Bäumen stand ein Gerätewagen der Feuerwehr hinter einem Zivilfahrzeug der Polizei, einem dunklen BMW mit Blaulicht auf dem Armaturenbrett. Oberkommissar Hagen lehnte am Heck des BMW, die Beine übereinandergeschlagen, und rauchte eine filterlose Zigarette. Sobald er den Sprinter bemerkte, ließ er die Zigarette in den Rinnstein fallen. »Da sind Sie ja«, sagte er, als Ella ausstieg. »Wahrscheinlich ist unser Freund inzwischen tot.«

1 6
    Das Haus hatte keine Nummer mehr am Eingang, und die Tür stand einen Spaltbreit offen, weil das Schloss fehlte. Die Namen auf der Klingeltafel waren vielfach durchgestrichen, überklebt und mit Filzstift neu geschrieben worden. »Kein Kornack im vierten Stock«, erklärte Hagen und drückte nacheinander alle drei Knöpfe der obersten Reihe. Drinnen tastete er nach dem Lichtschalter. Es gab ein Klacken, dann ging eine nackte Glühbirne über ihren Köpfen an. Ein moderiger Geruch hing im Treppenhaus. Der Oberkommissar blickte sich um, legte den Kopf in den Nacken. Die Wände wiesen große rötlichbraune Nässeflecke auf. Bis in Schulterhöhe waren sie mit grünen Kacheln verkleidet, von denen die Hälfte fehlte. Dicht neben Ellas Hals hing ein Elektrokabel aus der Wand. Das feuchte Linoleum unter ihren Füßen war schmutzig und löste sich vom Steinboden.
    »Ein Altbautraum für Individualisten«, sagte Hagen und stieg die knarzenden Treppenstufen hinauf, denn natürlich hatte das Haus keinen Aufzug. »Dann mal los.« Er griff nach dem Holzgeländer, das unter seiner Hand schwankte. Ein ächzendes Beben lief durch das Ge länder bis ganz nach oben, wo es in der Dunkelheit nachhallte, als das Licht wieder erlosch.

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