Nukleus
Leute wie Sie erwischt man am besten früh morgens«, sagte Nerin und fügte fast vorwurfsvoll hinzu: »Aber Sie waren nicht da.«
Noch jemand, der weiß, wo ich wohne, dachte Ella. »Dein Vater hat meine Telefonnummer«, sagte sie. »Du hättest ihn fragen und mich einfach anrufen können.«
Nerin stand auf und trat von einem Fuß auf den anderen, die Schul tern hochgezogen. Sie rieb sich die Hände. »Mein Vater darf nicht wissen, dass ich mit Ihnen rede«, sagte sie. Aus den vor ihrer Brust herabhängenden iPod-Stöpseln drang weiter Musik. »Ich wollte wissen, wie es Shirin geht.«
Ihr Gesicht war blass, nur auf den Lippen schimmerte ein dunkles Rot, das langsam abbröckelte. Das ins Violett spielende Rouge auf ihren Wangen wirkte im Zwielicht wie die übertriebenen Zinnoberkleckse in der Maske eines Clowns. Sie trug wieder enge Jeans, hellbraune Stiefel, die fast bis zu den Knien reichten, eine moosgrüne Bluse und einen mit roten und goldenen Ornamenten verzierten Seidenschal, außerdem das Wildleder-Jackett, das sie auch die beiden letzten Male angehabt hatte. »Meine kleine Schwester«, ergänzte sie, als könnte Ella vergessen haben, wer Shirin war. »Wie geht es ihr?«
»Nicht gut«, sagte Ella. »Sie hat eine Gehirnhautentzündung, und jetzt ist auch noch eine Blutvergiftung dazugekommen.«
»Aber sie wird doch wieder gesund?«, fragte Nerin. Ihr Gesicht war unbewegt, doch hinter ihren Augen schienen Sorgen zu flattern wie kleine, lautlose Vögel in einem Käfig. »Sie wird nicht sterben, oder?«
Ella antwortete nicht. Sie sehnte sich nach einer Dusche, nach Ruhe, um ihre Gedanken zu ordnen. »Wenn Shirin diesen Tag übersteht, hat sie eine Chance, wieder aufzuwachen. Aber niemand kann sagen, in welchem Zustand sie sich dann befindet.«
»Hauptsache, sie bleibt am Leben, und Sie kümmern sich um sie, wenn sie aus dem Krankenhaus kommt.« Nerin zuckte mit den Schultern. Das Scheppern der Musik, die sie gehört hatte, stieg in herrischer Penetranz aus den iPod-Hörern auf wie das rasende Pochen eines mechanischen Herzens. »Kannst du das mal abstellen?«, fragte Ella.
»Ja, klar, Tschuldigung.« Nerin holte den iPod aus der Jackentasche und schaltete die Musik ab. Danach verschränkte sie die Arme vor dem Bauch, als bräuchte sie eine neue Barriere gegen ihre Umwelt.
»Was meinst du damit, ich soll mich um Shirin kümmern?«, wollte Ella wissen.
»Mein Vater respektiert Sie«, antwortete das Mädchen. »Er wird auf Sie hören, obwohl Sie eine Frau sind.«
»Ehrlich gesagt, möchte ich so wenig wie möglich mit deinem Vater zu tun haben«, sagte Ella.
Nerin senkte den Kopf, zeichnete mit der Stiefelspitze eine unsicht bare geometrische Figur auf den Asphalt der Einfahrt. Dann nickte sie. »Das kann ich verstehen. Ich hätte am liebsten selbst nichts mit ihm zu tun. Oder mit irgend jemandem sonst aus unserer Familie.« Sie schwieg eine Weile. Dann sah sie Ella an. »Meine Brüder, die sind stolz darauf, Abou-Khan zu sein. Weil alle Angst haben, wenn sie den Namen hören, weißt du? Niemand traut sich, den Mund aufzumachen, wenn einer sagt, ich bin Abou-Khan. Ihnen gehört die Straße – Amal, Mamoud, Ahmed. Sogar wenn sie im Gefängnis sind. Zwei meiner Brüder und vier Cousins sind im Gefängnis. Wenn sie wieder rauskommen, ist es wie vorher, jeder gehört sich und den anderen Abou-Khans, und wir sind auch ihr Eigentum, ich, Shirin, meine anderen Schwestern und Cousinen, sogar meine Mutter. Ist okay, ja? Irgendwohin muss man gehören, und ich bin hier und nicht woanders. Aber wer gibt meinen Brüdern das Recht, mir zu befehlen, wen ich liebe? Das ist keine Art zu leben, wenn einem jemand sagt, den darfst du lieben und den nicht, das musst du tun und das nicht.«
Ihr Gesicht wirkte plötzlich gealtert vor Wut, und ihre Lippen bebten. »Die sehen nur eine Hülle, die sehen nicht hinein. Die sehen nur das Außen. Die sehen einen Araber, und sie sagen, ein guter Mann, und sie sehen einen Deutschen und sagen, Deutsche kann man nur vergasen. Sie sehen eine Frau, die gehorcht, und sie sehen eine andere Frau, die ihrer Familie Schande macht. Aber sie sehen nur die Hüllen ohne das Innere. Sie sagen, du darfst das Haus nur verlassen, wenn wir es dir erlauben. Sie sagen, die Ehre verlangt, dass ich einen Araber heirate, selbst wenn er mit Drogen dealt, ja? Wenn er Leute zusammenschlägt und Mädchen auf den Strich schickt. Sie sagen, ich bin eine Nutte, weil ich kein Kopftuch trage. Sie sagen, sie bringen
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