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Nukleus

Nukleus

Titel: Nukleus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claus Cornelius Fischer
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abgefallenen Blättern eine Wundpresse anlegte, genau wie die Indianer im Lederstrumpf . Als sie fertig war, zog sie Tanja an einem Arm hinter sich her über die mit Nadeln bedeckte Erde, bis sie aus ihrer Ohnmacht erwachte. Ella setzte sich neben ihre Freundin. Sobald sie genug Kraft gesammelt hatten, um aufzustehen, umfasste sie mit einem Arm Tanjas Hüfte – Halt dich an meiner Schulter fest! –, und gemeinsam kamen sie hoch und schleppten sich ins Dorf zurück, wo alle schon mit dem Sonntagsessen fertig waren.
    Du solltest Ärztin werden, sagte ihre Mutter, aber Ella hatte andere Pläne, sie wollte Architektur studieren und später richtige Häuser bauen, jedenfalls damals, als sie zehn war. Mit elf wollte sie Pferde trainerin werden, dann Malerin, dann Journalistin, dann Ballett-Cho reografin und dann erst, als sie sechzehn wurde, Ärztin, und zwar Kinderärztin.
    Ich könnte ein paar Fotos von mir an den Baum hängen, Fotomontagen: ich und Monty Roberts, ich und Frida Kahlo, ich und Oriana Fallaci, ich und Pina Bausch. Und dann: ich und Paul. Aber nicht einmal von Paul hatte sie noch ein Foto, dabei war er ihre erste große Liebe gewesen.
    Der Sommer mit Paul: Die großen Ferien hatten angefangen, und sie war gerade aus dem Internat gekommen und wohnte wieder in ihrem alten Zimmer im Haus ihrer Eltern am Rand des kleinen Dorfes in der Lüneburger Heide. Sie nannte es immer noch das Haus ihrer Eltern, obwohl ihr Vater dort inzwischen allein lebte, seit ihre Mutter ihn wegen einem anderen Mann verlassen hatte, einem Notar aus der Kreisstadt. Ella und ihr Vater waren übereingekommen, nicht mehr von ihr zu reden; als hätte ein Besucher von einem anderen Planeten die Erinnerung an sie aus ihren Gehirnen getilgt – in jener weit zurückliegenden Zeit, als es noch kein Netz gab, das zum Gedächtnis für alles und jeden wurde.
    Ella musste unwillkürlich lächeln. Hätte Abdallah sie nicht aufgefordert, ihr Profil bei LifeBook zu aktualisieren, hätte sie sich daran auch nicht mehr erinnert; ein Teil ihres Lebens wäre vergessen gewesen.
    Sie trug in jenem Sommer das lange kastanienfarbene Haar offen, und man sah sie meistens in einem kakifarbenen Männerhemd, einer kurzen Leinenhose und ausgetretenen Sandalen. Wegen ihrer langen Beine und des schlanken Halses nannten die Nachbarn sie »die Antilope«, und ihren Vater nannten sie nur noch »van Gogh«, weil er neuerdings oft mit Leinwand, Staffelei und Farbtasche aus dem Haus stapfte, um die Landschaft rings um das Dorf zu malen. Manchmal begleitete sie ihn.
    Tanja war nicht mehr ihre beste Freundin. Sie hatten sich beide verändert. Tanja ging nicht mehr zur Schule, sondern half in der Bäckerei ihres Vaters.
    An einem heißen Sonntag im Juli, zwei Wochen vor ihrem Geburts tag, hielt der rote Spritzenwagen der freiwilligen Feuerwehr aus der Kreisstadt auf dem verwaisten Kirchplatz, um einen Jungen abzusetzen, den Ella hier noch nie gesehen hatte. Sie sonnte sich auf der niedrigen Friedhofsmauer und beobachtete den Jungen, der da in seiner blauen Uniform auf dem gepflasterten Platz stand, den gelben Helm unter dem Arm, und eine bauchige Ledertasche neben den Stiefeln. Als der Spritzenwagen fort war, kniff der Junge die Augen zusammen und sah sich um, dann hob er seine Tasche auf und ging über die Hauptstraße auf den Friedhof zu.
    Ella rührte sich nicht vom Fleck. Sie saß auf den warmen Steinen der Mauer, mit dem Rücken zu den Gräbern, und ließ die Beine baumeln, während sie zusah, wie der Junge näher kam. Bald erkannte sie, dass er älter sein musste, als es von Weitem den Anschein gehabt hatte, schon fast ein Mann. Als er sie erreicht hatte, blieb er stehen. Er sah sie an und lächelte, wie außer ihm noch niemand gelächelt hatte, wenigstens konnte sie sich nicht daran erinnern. Der Mund wurde ihr trocken unter dem Blick seiner Augen, die ungefähr den Farbton seiner Uniform hatten. Hey, sagte er und strich sich eine Haarsträhne aus der Stirn, ich bin Paul. Ella sagte auch hey , mehr nicht.
    Kaum dass der Junge um die Ecke ihres Hauses verschwunden war, sprang sie von der Mauer, und als sie stand, stellte sie fest, dass ihre Knie zitterten, und das war ihr noch bei niemandem passiert. Sie folgte ihm mit gesenktem Kopf, wie zufällig. Ihr Herz schien plötzlich doppelt so groß zu sein, und es schlug viel schneller als sonst. Sie bog um die Ecke und sah gerade noch, wie Paul das Haus hinter der Trauerweide betrat. Vor der Schwelle lag ein Schäferhund,

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