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Nukleus

Nukleus

Titel: Nukleus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claus Cornelius Fischer
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überhaupt noch stolz auf dich sein kann?!«, rief Ella ihr nach, auf einmal mindestens genauso wütend wie das Mädchen. »Du bist auch Scheiße, Nerin! Glaubst du, deutsche Männer sind so viel anders als arabische? Sie bringen einen nur anders um! Und kauf dir endlich mal ein vernünftiges Kopftuch!«

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    Sie war wieder klein, und sie fror, denn die Kirche war nicht geheizt. Sie konnte sehen, dass auch ihre Mutter vor Kälte zitterte. Bei den Liedern stiegen kleine Nebelwölkchen aus den Mündern der Männer und Frauen um sie herum in die klamme Luft, vor allem bei Worten wie Herr und Himmel , sodass sogar die blattgoldverzierten Putten unter der Kanzel fast hinter dem frommen Atem verschwanden. Sie war gerade von der Kommunion zurückgekommen, und die Hostie klebte am Gaumen und schien sich überhaupt nicht auflösen zu wollen. Aber sie fühlte sich trotzdem geheiligt, denn sie hatte ja den Leib Christi im Mund.
    Nach der Messe ging ihre Mutter nach Hause, wobei sie leise in ein Taschentuch hustete. Ihr Vater, der Schullehrer, traf sich in der Goldenen Gans zum Frühschoppen mit anderen Männern, und Ella durfte bis zum Mittagessen noch mit ihrer Freundin Tanja spielen. Tanja wäre lieber ein Junge geworden, und wenn sie es genau betrach tete, ging es Ella genauso. Deswegen hatten sie angefangen, aus zu rechtgeschnitzten Ästen ein Baumhaus zu bauen, in dem kleinen Wald hinter dem Dorf. Weil Jungen so was taten. Vor dem Eingang hatten sie für hungrige Vögel einen Schmalzring aufgehängt, außerdem gab es ein Schälchen mit Körnern.
    Ella saß in der fensterlosen Kammer, die ihr als Büro diente, vor ihrem Notebook und versuchte, jenen Tag von damals an ihren »LifeTree«, ihren Lebensbaum, bei LifeBook zu hängen. Sie hatte keine Fotos aus der Zeit, die sie auf ihrer Seite posten konnte, keins von sich in dem Alter und auch keins von Tanja, nur zwei von ihrer Mutter und drei von ihrem Vater, aber die gingen niemanden etwas an. Ich könnte eine Ansicht des Dorfes hochladen, dachte sie.
    Es war ein leuchtender Spätherbsttag gewesen, aber gerade als sie den Wald erreicht hatten, zog eine Wolke vor die Sonne. Sekundenlang verdunkelte sich der Himmel. Ein plötzlicher Windstoß fegte Laub und Tannennadeln über den Waldboden, und Ella spürte eine Gänsehaut zwischen den Schulterblättern. Dann strahlte die Sonne wieder wie zuvor, schickte ihr blendendes Licht durch die kalten Zweige.
    Tanja hatte nach einem der zugespitzten Äste gegriffen, mit denen sie das Dach abstützen wollten, und war als Erste den Stamm hinaufgeklettert. Obwohl die dicke Winterjacke und die klobigen Schuhe hinderlich waren, hatte sie das halbfertige Baumhaus schon fast erreicht, als das Unglück geschah. Tastend streckte sie eine Hand nach dem nächsten Ast aus. Im nächsten Moment gellte ihr heller, dünner Schrei Ella in den Ohren, und noch einen Moment später lag sie am Fuß des Baums auf der Erde. Der Schrei ging in ein Wimmern über, schmerzerfüllt und auch seltsam staunend, als könnte sie nicht fassen, was gerade passiert war. Sie lag da und umklammerte ihr linkes Bein, in das sich der zugespitzte Ast gebohrt hatte, und Ella dachte: Wir haben sie zu spitz gemacht, für das Dach muss man sie nicht so spitz machen.
    Fast sofort überwand Ella ihren Schock, schlüpfte aus ihrem Parka und fischte ihr Taschenmesser aus der Hose. Tanja sah sie hilfesuchend an, noch immer wimmernd – Tut so weh, tut so weh –, und ihr Gesicht war weiß, und ihre Augen schienen nach etwas zu suchen, woran sie sich festhalten konnte. Ruhig, sagte Ella, beweg dich nicht. Bleib ruhig und atme tief. Es war das Erste, was ihr in den Sinn kam, während sie den linken Ärmel von ihrem Parka abtrennte und in Streifen schnitt, so gut sie es mit der kleinen Klinge fertigbrachte.
    Danach beugte sie sich über Tanjas Bein, wo sich die Hose rings um den Ast langsam rot färbte. Sie wusste, dass es bestimmt noch mehr Blut gab, wenn sie den Ast herauszog, und dass ihr vielleicht schlecht werden würde. Der Stoff der Hose war schon bis zum Knie hinunter durchtränkt. Durch den Riss konnte sie die Ränder der Wunde sehen, und sie band zuerst den Oberschenkel dicht über dem Knie mit den Ärmelstreifen ab, so straff, dass Tanja ein Schrei entfuhr, und als Ella mit einem heftigen Ruck den Ast herausriss, schrie sie noch einmal, bevor sie das Bewusstsein verlor.
    Gut, dachte Ella, endlich hört das Gewimmer auf, während sie mit den restlichen Streifen und ein paar

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