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Nukleus

Nukleus

Titel: Nukleus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claus Cornelius Fischer
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der gedöst zu haben schien, jetzt aber den Kopf verdrehte, damit er sie im Auge behalten konnte.
    Ella sagte hey zu dem Hund und lehnte sich neben der Tür an die Hausmauer, um sich darüber klarzuwerden, was gerade mit ihr geschah. Durch den Stoff des Hemdes spürte sie die Wärme des Mauerwerks. Nach einer Weile schloss sie die Augen und ließ sich daran hinunterrutschen, bis sie mit ihren Gesäß die Fersen berührte. Der Hund sah sie an, und sie sah den Hund an und sagte: Manche Wesen laufen anderen eben zu.
    Sie trafen sich die ganzen Ferien über, Paul und sie, immer heimlich, denn er war viel zu alt für sie. Noch nie war sie in jemanden so verliebt gewesen wie in diesen Jungen mit dem schwarzen Haar, das ihm immer wieder in die Stirn fiel. Die ganze Zeit dachte sie das Wort süß, dabei mochte sie sonst gar keine süßen Sachen. Fünf Wochen lang begleitete sie ihn überallhin, wo auf den Dörfern die Feuerwehr zum Einsatz kam; wo Brandmeister und Sanitäter gebraucht wurden, bei Jahrmärkten, Popkonzerten, Schützenfesten und Seifenkistenrennen.
    Es geschah bei der Kirmes im Nachbardorf, an ihrem letzten Samstag gegen zehn Uhr abends. Ella bummelte allein über den Rummelpatz. Weil sie schon nach ein paar Minuten auf Paul-Entzug war, brauchte sie etwas Süßes und kaufte eine Spindel Zuckerwatte, so groß wie ein Fußball. Wenn sie daran dachte, dass Montag die Schule wieder anfing, spürte sie ein Brennen in den Augen. In zwei Tagen musste sie sich von ihm trennen, und dann konnte ihr alle Zuckerwatte der Welt nicht helfen.
    Auf einmal hörte sie einen Schrei, weit weg und schrill und so laut, dass er die lärmende Musik übertönte. Als sie sich umdrehte, stellte sie fest, dass sich am anderen Ende des Platzes eine Menschentraube gebildet hatte; sie sah nur die Rücken, dicht an dicht, reglos. Die Menschen schienen auf etwas zu starren, das sich zu ihren Füßen abspielte. Mit einem flauen Gefühl im Magen ging Ella auf die Rückenmauer zu. Sie hatte sie noch nicht ganz erreicht, da entdeckte sie Paul, sein blaues Hemd, die reflektierenden Streifen auf der Hose, sah, wie er im Licht der bunt blinkenden Glühbirnen neben einem auf dem Rücken liegenden Mädchen kniete.
    Das Mädchen war ganz blass, und sein linker Arm stand in einem merkwürdigen Winkel vom Oberkörper ab, wie der einer Gliederpuppe. Eins seiner nackten Beine zitterte heftig, und Ella bemerkte, dass es nur einen Schuh anhatte. Der andere lag neben ihm im Gras, neben dem Mädchen und neben Paul, der sich über das Gesicht des Mädchens beugte. Dann war sie nah genug, um zu erkennen, dass alles an dem Mädchen zitterte, als wäre ihm kalt. Seine Augen waren offen, und erst dachte Ella, es starre Paul an, bis Paul sich bewegte, und da sah sie, dass die Augen des Mädchens ins Leere starrten, in die Nacht, zu den Sternen hinauf.
    Das Unheimliche war, dass es kein Blut gab, überhaupt kein Blut auf der blassen Haut, nur die zitternden Glieder und das Starren der Augen und den eingedrückten Brustkorb, von der Gondel, die heruntergefallen war und das Mädchen unter dem Riesenrad getroffen hatte.
    Paul sagte etwas, er redete mit dem Mädchen. Er hielt seine Hand und redete mit ihm, und plötzlich krümmte sich das Mädchen, ohne dass es aufhörte, zu den Sternen hochzuschauen. Er griff in seine Notfalltasche, holte eine Injektionsnadel heraus und spritzte etwas in eine Vene an dem abgewinkelten Arm des Mädchens. Fast sofort hörte es auf zu zittern, und noch etwas später schloss es die Lider, als wäre es nun sehr müde.
    Ella hatte nur Augen für Paul, für das, was er tat. Als würde sie Zeugin eines magischen Aktes. Das war der Moment, da sie endlich wusste, was sie wirklich werden wollte, wenn sie mit der Schule fertig war. Am Abend sprach sie mit ihrem Vater, und er sagte lange Zeit nichts, dann nickte er. Ja, sagte er, das wollte ich auch, als ich so alt war wie du, Medizin studieren, und zwar an der Charité in Berlin, dem besten Klinikum des ganzen Landes. Ich hatte bloß nicht genug Mumm in den Knochen. Aber du, dir traue ich das zu.
    Er stand auf und legte ihr in einer selten gewordenen Geste der Zärtlichkeit den Arm um die Schulter.
    Der Abend der Entscheidung, schrieb Ella jetzt. Aber an jenem Abend, nein, in der Nacht danach war noch mehr geschehen, und als sie daran dachte, schoss ihr das Blut ins Gesicht. Das nicht, dachte sie, das wird niemals am LifeTree erscheinen. Denn sobald ihr Vater ins Bett gegangen war, hatte sie sich

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